Von Stumpauern und Blinden Fischen

 

Als Paul die Augen öffnete, sah er eine Eisschicht auf seiner Bettdecke, dort wo sein Atem hinging.  Ein Blick aus dem Fenster war nicht möglich: Eisblumen in schönster Anordnung. Marie, die Mutter, hatte den zwölfjährigen geweckt: „Es ist schönstes Winterwetter und Vater will mit dir zum Stumpauern. Wehe, wenn ihr nichts mitbringt, dann gibt es heute nichts zum Mittag, höchstens Blinden Fisch!“ Paul angelte nach dem Ziegelstein, den ihn seine Mutter am Abend aus der Backröhre des Stubenofens genommen, mit einem dicken Handtuch umwickelt und  in sein Bett gelegt hatte. Den brauchte er heute Abend oder gar schon früher erneut zum Aufwärmen. Aber nur, wenn er ihn selbst in die Backröhre legt, so die Übereinkunft mit seiner Mutter. Es war Sonntag und keine Schule. Der Gang übers Eis fiel heute glücklicherweise aus. Draußen lud der Vater schon alles auf den Stoßschlitten, wie er durch ein mit seiner Atemluft angewärmtes Guckloch im Stubenfenster sehen konnte : Garnsack, Stumpauer, Holzeimer, Äxte und noch was Eingewickeltes. Paul beeilte sich, die heiße Mehlsuppe mit Butterflocken und noch eine Marmeladenschnitte hinunterzubekommen. Vater wartete schon mit dem Stoßschlitten auf dem Eis des Brodg. An seinen Filzstiefeln die Spreewälder, die Schlittschuhe mit den nach oben gebogenen Kufen, um besser über Eisunebenheiten zu kommen. Dick eingemummelt und durch ein Schaffell vor der Kälte geschützt, durfte Paul im Schlitten Platz nehmen. Zwischen den Gerätschaften war es ziemlich eng, das Eis uneben und die ganze Fahrt ziemlich ruckelig. Plötzlich ein Klirren: Aus einem achtlos von Paul bei seiner Platzsuche beiseitegeschobenen Bündel war eine Flasche aufs Eis gefallen und zersprungen. Der Vater geriet in Wut, denn schließlich wollte er nach einem gelungenen Fang mit seinem Schwager, mit dem er sich ebenfalls zum Eisfischen verabredet hatte, auf die großen Fische anstoßen. Je mehr Fische, desto besser der Vormittag! Die Vorfreude war dahin, zur Strafe durfte Paul den restlichen Weg übers Eis zu Fuß gehen, glücklicherweise nicht weit. Der zum Fischen ausgesuchte Graben, der nur den Abfluss zum Brodg-Fließ hatte und sich im Acker verlor, war schnell erreicht. Ziemlich misslaunig hackte der Vater ein größeres Loch am Übergang des Grabens zum Fließ und deponierte dort den Garnsack, eine Art Reuse. Inzwischen war auch der Schwager angekommen, der war allerdings bestens gelaunt. Er zog aus seinem Bündel eine intakte Flasche hervor, schließlich hatte er die gleiche Idee gehabt. „Glücklicherweise sind nicht beide Flaschen heil angekommen!“, frohlockte Paul in sich hinein. „Das wäre so ausgegangen wie im letzten Winter, als ich den Stoßschlitten mit dem schnarchenden Vater heimschieben musste.“ „Paul, hau schon mal mit dem Stumpauer in die Eislöcher!“ riss ihn sein Vater, schon wesentlich besser gelaunt, aus seinen Gedanken. „Da wird dir gleich warm, ich kümmere mich auf andere Art …!“ Paul stieß die lange Stange mit dem Lederlappen immer wieder in die vom Vater gehauenen Eislöcher. Vom entferntesten beginnend, arbeitete er sich bis zum Garnsack vor. Die aufgescheuchten Fische fingen sich darin und wurden vom Vater nach etwa einer Stunde aus dem Netz geholt. Es waren Plötzen und Bleien, Hechte und Barsche, Quappen und Schleie.

Beide Männer entnahmen nur so viel Fisch, wie sie für die nächsten Tage benötigten. Eine Vorratshaltung im Fischkasten schied aus, schließlich war der noch vor dem Frost aus dem Wasser gezogen worden. Bestens gelaunt traten die Drei ihre Heimreise an. Marie hatte schon den Ofen angeheizt, das Wasser brodelte im Topf, die Gewürze darin verströmten einen Wohlgeruch vom Feinsten. Als sie ihren Mann und ihren Bruder angetorkelt kommen sah, war sie ungehalten und spielte in Gedanke schon die Blinden Fische durch. Aber der gute Fang ließ sie wieder versöhnlich werden, sie erlaubte den beiden sogar noch einen letzten Schnaps in der warmen Stube. Bald waren die Fische ausgenommen, gesäubert und köchelten leise vor sich hin. Als auch die Kartoffeln gar waren, kam alles auf den Tisch. „Gottseidank gibt es heute keinen Blinden Fisch“, freute sich der Vater. Paul machte sich seinen Reim auf Vaters Spruch, behielt ihn aber wohlweislich für sich: „Hätte ich die Flasche nicht kaputt gemacht, wäre es sicher genauso gekommen!“

 

Spreewälder Fischgericht

Blinde Fische: Fiel einmal ein Fang aus, was zwar selten war, aber mal vorkommen konnte, gab es zur Soße eben nur die Kartoffeln, den Fisch sah man nicht, den musste man sich vorstellen.

 

 

Peter Becker; nach Aufzeichnungen von Paul Piesker (1924 – 2002), Lehde

Über Peter Becker 397 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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