Gans ganz verwertet

Ein Beispiel für die nahezu komplette Verwertung der Gans soll hier näher vorgestellt werden. Dietrich Dommain aus Lübben hat seine Kindheitserinnerungen und eigene Recherchen zusammengeführt:

Eine Gans kann 50 – 60 Eier im Jahr legen. Ein Teil war zum Ausbrüten der Gössel (max. 12 Eier) nötig, die anderen wurden verzehrt. Das Hüten der Gänse war die Aufgabe der Kinder, oft gemeinsam mit Nachbarskindern. Es war erstaunlich, wie sie ihre eigenen aus den vielen anderen Gänsen erkennen konnten. Eine sehr unbeliebte Arbeit dabei war das Gänsefederlesen. Die Kinder mussten nämlich die im Sommer bei der Mauser von den Gänsen verlorenen Federn aufheben. Diese kamen in einen separaten Behälter und wurden nicht für Kopfkissen oder Deckbetten verwendet, mit ihnen füllte die Hausfrau die Stubenkissen.

Im Herbst, zur Versorgung der Helfer beim Kartoffelhacken, in der Kirmeszeit, zum Martinstag und besonders zu Weihnachten wurden die etwa fünf Monate gemästeten Gänse geschlachtet. Nebenbei: 1945-1961 waren Gänse eine beliebte Schmuggelware (meine Mutter versteckte sie unter dem langen Wintermantel) nach Westberlin, um dort mit D-Mark Waren zu kaufen, die es im Osten wenig oder nicht gab z.B. für die Weihnachtsstolle Rosinen, Mandeln, Zitronat oder andere kaum erhältliche Dinge und waren.

Zum Schlachtzeitpunkt sollte das Gefieder der Gans schön ausgereift sein. Der Stall wurde ständig mit viel Einstreu versehen, damit die Federn beim Schlachten sauber waren. Die Gänse wurden betäubt und schnell mit einem Stechmesser zwischen dem Kopf und Hals in die Schlagader abgestochen. Bei einem stressfreien Schlachten läuft das Blut schnell ab und die Gans behält ihre leuchtendgelbe Farbe, wenn nicht, dann kann sie unansehnlich rötlich aussehen. Das Blut wird in einer Schüssel aufgefangen. Das erkaltete, geronnene Blut wird in einer Pfanne mit Fett erhitzt und zerrührt oder in geschnittenen Scheiben, gesalzen und mit Zwiebeln versehen, kurz gebraten. Auf Brot ergibt es eine sehr schmackhafte Mahlzeit. Wenn das Blut mit Sahne verfeinert wird, gab es Kartoffeln dazu.

Federnschleißen

In der Regel wurden die frisch geschlachteten Gänse nicht gebrüht, sondern die noch warme Gans schnell per Hand gerupft. Die Bäuerin legte sie auf dem Schoß und begann die Gans am Hals zu rupfen. Die Federn wurden dabei in einem mit Papier ausgelegten Kartoffelkorb aufgefangen. Wurde sie zu kalt, wurden Hautteile mit abgerissen. Das passierte besonders bei den Gantern, da bei ihnen die Federn fester sitzen. Nach dem Rupfen wurden die Federn getrocknet und in luftdurchlässige Leinensäckchen bis zur Weiterverarbeitung trocken, oft auf dem Hausboden, gelagert. Manchmal wurde über mehrere Jahre gesammelt bis genügend Federn zum „Federball“ (wie das Schleißen auch genannt wurde – s.S. …) bereitstanden. Damit keine Motten oder andere Schädlinge die Federn verdarben, legte man frisches Kienholz mit in die Säcke. Um Federrückstände zu beseitigen, wurde dann der Gänsekörper über eine Gas- oder Petroleumflamme gehalten und gedreht, sodass diese Reste verbrannten. Die „Fletten“ (Gänseflügel), der auslaufende, fleischlose Teil der Flügel mit den langen Flugfedern, wurde nicht gerupft, aber abgeschnitten.  Diese „Fletten“ wurden als Reinigungsgerät im Haushalt genutzt z.B. zum Säubern der Backöfen oder als Handfeger.

Die Gans wurde beim Schlachten vom “Stiez“ (Schwanz) her bis zur Brust aufgeschnitten und die Därme und Innereien wie Herz, Magen und Leber sowie die Fettliesen[1] entnommen. (Die Leber war eine beliebte Spezialität und wurde mit Zwiebeln gebraten oder zur Herstellung von Gänseleberwurst genutzt.) Der Hals, die Beine und die Flügel wurden abgeschnitten und mit den inneren Organen zum Kochen der „Gänsekleinsuppe“, meistens mit Brühnudeln oder Brühreis, verwendet.

Manchmal wurde die Halshaut abgelöst. Dieser darmartige Schlauch eignete sich zum Befüllen mit Gänseleberwurstmasse, der oben und unten zugenäht und anschließend wie Wurst gebrüht wurde.

Die für die Suppe verwandten Knochen wurden anschließend zertrümmert und dienten dem eierlegenden Federvieh als Kalziumlieferant.

Wickelpoten

Wickelpoten mit Suppengemüse

Eine weitere Besonderheit ist das Herstellen von „Wickelpoten“ – ein heute eher auf Ablehnung stoßender und an die asiatische Küche erinnernder Vorgang: Die Därme werden dazu vom anhaftenden Fett befreit, längst aufgeschnitten, unter Wasser gründlich gereinigt, kräftig gesalzen und in eine kleine Schüssel gelegt und vollständig mit Essig bedeckt. Sie bleiben gut gekühlt zwei bis drei Tage eingelegt. Dann werden die Gänsefüße (spreewäldsch: Poten) die ja bekanntlich Schwimmhäute zwischen den Zehen haben, mehrere Minuten gekocht. Danach kann die oberste Hautschicht abgepellt werden, die „Poten“ sind nun absolut sauber und nicht zäh beim Essen. Die Zehenkrallen wurden abgekniffen. Anschließend werden die „Poten“ mit den vorbereiteten Därmen fest umwickelt. Sie kommen mit in die Gänsekleinsuppe und haben einen besonderen, fettsäuerlichen, köstlichen Geschmack. Bei Tisch können auch Streitobjekt sein: es sind ja in der Regel nur zwei Poten im Suppentopf!

Rezept Wickelpoten (aus Dollgen; von Hannelore Rasch):

Gänsefüße waschen, die Krallen und die Haut abziehen. Die Gänsefüße mit den gewaschenen Därmen der Gans umwickeln. Das zusammen mit Suppengrün kochen. Die Suppe kann klar, angedickt oder mit Nudeln serviert werden. Die Wickelpoten schmecken sehr gut!

Gänseschmalz

Von dem anhaftenden Fett der Därme und der Liesen wurde „Gänseschmalz“ hergestellt: Das kalte Fett wurde in Würfel geschnitten, kam in einen Kochtopf und wurde aufgeheizt, bis es sich verflüssigt.  Es werden geschnittene Zwiebel und Äpfel hinzugegeben und man lässt es einige Minuten sieden bis die Zwiebeln anfangen sich bräunlich zu verfärben. Das jetzt fertige Schmalz wird in kleine Schüsseln gegeben, abgekühlt und ist fertig zum Verzehr. Es war nicht nur eine energiereiche Nahrung besonders an kalten Wintertagen. Älteres Gänseschmalz wurde zum Pflegen von Leder- und zaumzeug verwandt, manche Tierverletzung wurde damit ebenso behandelt wie raue und rissige Hände und Füße.

Klapper

Von der Gans wurde praktisch alles verwertet, selbst die Luftröhre der Gans eignete sich noch als Kinderspielzeug: Sie wurde gründlich gesäubert und mit zwei bis drei kleine Kieselsteinchen gefüllt (so klein, dass sie sich nicht untereinander verfangen konnten). Dann wurde die Luftröhre zu einem Ring gelegt, um beide Enden zusammenstecken zu können. Auf dem Ofen getrocknet, ergab sie eine bei Kleinkindern beliebte „Klapper“ – frei von Farbstoffen oder den heute üblichen Zusätzen!

Dieses „Gänsebeispiel“ zeigt, dass einst, sicher oft aus der Not heraus, möglichst alles verwertet wurde. Wenn es auch diese Notsituation nicht mehr geben mag, tut sich heute eine andere Notsituation auf – der Zustand der Umwelt.  Abfall oder Müll gibt es eigentlich nicht und sollte es auch nicht geben, der modernere Begriff „Wertstoff“ beschreibt dies gut. Es gibt auch kein „weg“ im Sinne von Wegwerfen, es gibt immer nur ein Verlagern oder ein eher nicht gewolltes Umwandeln.


[1] Fettliesen: Eingeweidefett, Fett der Organe

Peter Becker, 22.12.22

Über Peter Becker 359 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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