Hahnrupfen – ein alter Brauch neu hinterfragt

Hahnrupfen

Tradition ist das Forttragen der Glut und nicht der Asche![1]

„Der Hahn ist doch nicht echt oder?“, fragt eine Urlauberin einen älteren Zuschauer, einen, von dem sie annimmt, dass er ein Einheimischer ist. „Doch, doch, warum nicht? Das ist doch eine uralte Tradition!“, antwortet er und feuert gleichzeitig seinen Enkel an, der sich auf „Ringo“ aufrichtend, gerade den Hahn um Millimeter verfehlt hat. „Muss das sein? Geht es auch nicht anders, vielleicht mit einer Attrappe?“, versucht die Urlauberin wieder das Gespräch aufzunehmen, um sogleich eine unfreundliche Abfuhr zu erhalten: „Darüber diskutieren wir Spreewälder nicht, das ist Tradition, das bleibt so und Basta!“

Während Reiter für Reiter Runde für Runde sich dem am Galgen baumelnden Hahn nähern und ihm schon mal die eine oder andere Feder auszureißen, bekommen sie von den Einheimischen viel Beifall, von vielen Urlaubern dagegen nicht. Zuvor versuchen sich die Reiter am ebenfalls aufgehängten Plastik-Krims-Krams (Sexpuppe!) oder den Schnapsfläschchen, um die Griff- und Zielsicherheit zu trainieren.

Zu archaisch erscheint manchen der Brauch des Hahnrupfens, besonders Tierschützer wenden sich ab – innerlich wie körperlich- und verlassen kopfschüttelnd das Gelände. Der Eindruck unter den Zuschauern verstärkt sich, dass sich die Einheimischen gern selbst feiern und jede Hinterfragung mit der Floskel „Das ist nun mal Tradition“ abwürgen.

Doch ist es nicht wirklich an der Zeit, diesen slawisch-heidnischen Brauch einmal einer Prüfung zu hinterziehen? Er stammt aus einer Zeit, in der gute Ernten, ein fruchtbarer Boden, überlebenswichtig für die Menschen waren. Der Glaube an Überirdisches war allgegenwärtig, der Allmacht der Natur stand nur die menschliche Hoffnung gegenüber, dass es eine gute Ernte geben möge. Es lag daher nah, nach einer erfolgreichen Ernte sich „bei den Göttern“ zu bedanken und „günstigende Umstände“ für die Ernte im kommenden Jahr zu schaffen. Der Hahn steht im Glauben der heidnischen Slawen und den nachkommenden Sorben/Wenden an vorderster Stelle. Er steht für Fruchtbarkeit schlechthin – er muss Platz schaffen, für einen neuen potenten, die Ernte sichernden Hahn; er hat schlichtweg ausgedient. Neben Stollereiten, Froschkarren und dem einen oder anderen örtlichen Brauch kam daher dem Hahnrupfen eine besondere Bedeutung zu, zumal sich der Sieger „Kral“ (König) nennen durfte. Abends eröffnete er gemeinsam mit der Siegerin der Mädchenwettkämpfe, etwa der beim Froschkarren, den Dorftanz. Das Hahnrupfen erfolgt in des Wortes wahrstem Sinne: er wird unter Beifall gerupft, zerfleddert und der Rest in den Staub geworfen.

Der Rest des ausgedienten Hahns.

Doch die Zeiten ändern sich, der Glaube an die Wirksamkeit des Hahnrupfens ist in einer aufgeklärten Zeit über naturwissenschaftlichen Zusammenhängen ohnehin abhanden gekommen. Bleibt also nur noch die Tradition als solche, die löblicherweise von der Dorfjugend gepflegt wird. Sie ist ein Bekenntnis zu den Vorfahren, zur Geschichte und zur sorbischen/wendischen Heimat. Diesem Bekenntnis darf in keiner Weise entgegengetreten werden, andernfalls stirbt die Traditionspflege. Das Engagement dafür muss weiterleben, sollte gefördert und unterstützt werden, moralisch wie materiell. Ob dazu immer noch ein Hahn geschlachtet werden muss, der erst über die Fledderei in den Suppentopf gelangt (falls überhaupt), ist mehr als fraglich geworden. Die Einstellung der Menschen zum Tier hat sich glücklicherweise gewandelt. Tierwohl steht an vorderster Stelle, abgesehen vom Einfluss des zunehmenden Vegetarismus.

Wie weiter? Der Brauch des Hahnrupfens hat eine Zukunft, wenn er nur ein wenig der Zeit angepasst wird. Macht es nicht auch ein von den Mädchen des Dorfes geflochtener Strohhahn, den man Federn anfügt? Es könnte sogar einen Wettbewerb geben, wer den schönsten Hahn fertigt! Und Plastik-Krims-Krams zum Aufwärmen muss nicht sein, dafür gäbe es sicher Alternativen, die einer kreativen Dorfjugend sicher einfallen werden.

Und ganz nebenbei: „Das Hahnrupfen der Neuzeit“ wird zu mehr Akzeptanz führen, somit zu mehr Besuchern und mehr Einnahmen, denn solche Feste sind teuer. Man darf gespannt sein, welcher Verein sich wann vom alten Hahnrupfen verabschiedet!

Peter Becker, 03.08.18

[1] Hier das Zitat im historischen Zusammenhang: „Jawohl, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Nicht vergeblich hat die Flamme im Herd so vieler menschlicher Generationen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt.“
Jean Jaurès, 21. Januar 1910, Paris, Parlament; nach einer Übersetzung von Grete Helfgott.

 

Über Peter Becker 404 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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