Wie Unmenschliches zu großer Menschlichkeit führen kann

Es gibt bestimmte Ereignisse im Leben eines Menschen, die ihn zu dem werden lassen, was er später ist. Bei Ingrid König war es die schöne, aber sehr kurze Kindheit, die jäh ins Katastrophale, Lebensbedrohliche mündete.

Im westpreußischen Marienburg wuchs die 1938 Geborene als einziges Kind in einer Handwerkerfamilie auf. Die Sommer verbrachten sie an der Ostsee, auf dem Gut einer Verwandten auf der Halbinsel Hel (poln. Hela). Für die 7-Jährige endete die Familienidylle im Winter 1945. „Ich sah, wie Häuser brannten, ich sah fliehende Menschen und konnte nicht verstehen, wie Menschen Menschen so etwas antun können – und war plötzlich mit meiner Mutter mittendrin unter den Flüchtenden“, erinnert sich Ingrid König an das abrupte Ende der Kindheit. Ziemlich allein gestellt, versuchten sie mit einem Handwagen im Flüchtlingsstrom irgendwie mitzukommen, um es vielleicht nach Dresden, zu einer Verwandten zu schaffen. Kälte und Hunger rangen Mutter und Tochter alles ab: „Ich war oft von Angst gelähmt, als sich meine Mutter immer wieder auf die Suche nach Essbarem begab und mich allein im Treck lassen musste. Was wird aus mir, wenn sie nicht zurück kommt?“ Die Sorgen der Mutter waren noch größer: der Druck, sich und die Tochter heil ins Ziel zu bringen, wo vielleicht auch der Ehemann und Vater später hinzustoßen würde, nahm unmenschliche Formen an und überstieg ihre Kräfte. Kurz vor Dresden, die beiden hatten inzwischen einen Flüchtlingszug besteigen können, erlitt die Mutter einen schweren Herzanfall und musste in Radebeul in ein Lazarett übergeben werden. Der Bahnhofsvorsteher nahm die völlig verstörte Ingrid in seine Familie auf, bis sich ihre Mutter erholt hatte. „Mutters Herzanfall rettete uns wohl das Leben, denn meine Verwandtschaft, das Ziel unserer Reise, kam im Bombenhagel um“, blickt eine nachdenkliche Ingrid König 75 Jahre später auf dieses Ereignis zurück. Ziellos irrten sie damals durch Sachsen und kamen hier und da mal für ein paar Tage bei hilfsbereiten Menschen unter. Immer wieder gerieten sie in den letzten Kriegstagen in russische Patrouillen, die Mutter wurde mehrfach vergewaltigt, vor Ingrids Augen sollte sie sogar erschossen werden. Erst nach Kriegsende bekamen sie ein Zimmer in Ortrand zugeteilt – gegen den Willen des Wohnungsinhabers, der sie seine Abneigung, seinen Hass gegen Flüchtlinge stets spüren ließ.

Rückblickend weiß Ingrid König, dass ihnen damals oft nur der Zufall und die Mitmenschlichkeit einiger, nicht aller, das Leben rettete. Ein letzter Zufall, der eigentlich ein Unfall war, führte sie Jahre später nach Lübbenau, in die Richard-Wagner-Straße, in der sie seit 1969 wohnt: Bei einem Glatteisunfall im Winter 1967 lernte sie ihren Ersthelfer kennen und lieben, beide heirateten und verlegten ihren Lebensmittelpunkt in die Spreewaldstadt.

Die Wende führte zur Arbeitslosigkeit, ihr Ehemann verstarb gerade mal 63-jährig und wieder musste das Leben neu angepackt werden. Ingrid König, durch Erfahrungen geschult, meisterte auch diese Etappe. Sie besann sich dabei stets auf das, was sie noch hat und nicht auf das, was ihr fehlt. Sie baute auf dem auf und bot sogar ihre Hilfe an. Im Frauenverein der AWO-Ortsgruppe Lübbenau fand sie Halt – und zahlreiche Aufgaben, die sie anpackte und die sie letztlich an die Spitze der über 80 Mitglieder führten. Inzwischen bereits im fortgeschrittenen Rentenalter befindlich, belegte Sie Computerkurse und schaffte sich einen Laptop an. Ihre Buchhaltung, ihre Mitgliederverwaltung hält sie mit Excel-Tabellen aktuell, mit Hilfe ihrer WhatsApp-Gruppe kommuniziert sie und steht immer und jederzeit für jeden zur Verfügung. Ingrid König kümmert sich praktisch um alles, die Frauengruppe ist ihr Familienersatz. Sie organisiert Veranstaltungen und holt sich dazu Fachkompetenz. Für „Richtiges Verhalten im Straßenverkehr“ lud sie einen Fahrlehrer und für den „Enkeltrick“ einen Kriminalisten in die sehr gut besuchten Veranstaltungen ein. Gemeinsamer Sport, darunter die Winterwanderungen und gemeinsame Ausflüge, dienen dem Zusammenhalt der Frauengruppe. An langen Winterabenden sitzen die Frauen auch mal gern strickend zusammen: Hunderte Mützchen für die Kinderstation eines Berliner Krankenhauses sind dann das Ergebnis. Ingrid König hat dabei oft an ihre einst so wohlbehütete Kindheit im fernen Preußen gedacht, und auch daran, wie schnell Gutes und Normales ins Gegenteil umschlagen kann, wenn die Mitmenschlichkeit auf der Strecke bleibt und wenn nicht gegengesteuert wird.

Peter Becker, 15.02.2020

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Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf