Am Anfang war der Misserfolg

„Schau genau hin, das ist nicht mein Hut!“, antwortete ihr Zeichenlehrer auf die abgegebene Arbeit. Marion war von ihrer Leistung sehr überzeugt, siegessicher und voller Stolz. Sie hatte, gerade mal 13-jährig, es für eine leichte Übung gehalten, Francesco Berges Hut zu zeichnen. Ziemlich niedergeschlagen musste sie das Urteil zur Kenntnis nehmen, dass dem Hut „das Leben“ fehlte, an ihm die Dellen und Gebrauchsspuren einer langjährigen Nutzung nicht zu erkennen waren.

„Der Hut von Francesco Berges“, Bleistift, 21×30, 1980

Marion gab nicht auf – im Gegenteil: Kritik spornt sie an. „Ich konnte mir schon damals nicht ein Leben ohne Zeichnen und Malen vorstellen, ich spürte, es war meine Welt“, erzählt sie rückblickend. Doch der Berufswunsch, erst einmal Gebrauchsgrafikerin zu werden, fand keine Akzeptanz. Es sollte was „Vernünftiges“ gelernt werden, wenn schon Zeichnen, dann Bauzeichnen, lautete die elterliche Entscheidung. Der Berufsausbildung schloss sich ein Studium im Hochbau an, doch die politische Wende gab ihren Plänen eine neue Richtung. Durch Zufall erfuhr sie 1991 von einer Stellenausschreibung der Wohn- und Baugesellschaft Calau (WBC), sie bewarb sich, stieg in der Hierarchie auf – und ist bald 25 Jahre Geschäftsführerin.

Berufliche Anfspannungen fordern ihren Tribut; die Kraft dagegenzuhalten, schöpft sie aus der Kunst. Marion Goyn: „Die Stille beim Zeichnen und Malen bringt mich zur Ruhe und Erkenntnis – es ist der ideale Ausgleich, besonders in unserer hektischen Zeit.“ Sie eignete sich die verschiedensten Maltechniken an, alles, was sie sah oder umgab, speicherte sie im Gedächtnis ab, um es später in Kunst zu verwandeln. Dabei passierte es ihr schon mal, dass sie Raum und Zeit vergaß. „Beim Betrachten eines spektakulären Himmels, von dem ich nicht genug bekam, verpasste ich sogar mal eine Autobahnabfahrt“, erzählt sie rückblickend.

Eines ihrer jüngsten Werke ist … Marion Goyn hat das Sterben ihres Vaters in einem Kunstwerk verarbeitet, dass in seiner Ausdruckskraft jeden Besucher ihres Ateliers in Laasow augenblicklich vereinnahmt: Der Vater, gefangen im eigenen Körper, wird getragen von Erinnerungen und Lebensereignissen, und über allem steht die Sonne als wiederkehrendes Lebenssymbol.

„Erlösung“, Collage, Papier, Acryl auf Keilrahmen, 80×120, 2023

Das Vergehen des Lebens, der immerwährende Kreislauf, beschäftigt Marion Goyn. Während andere Künstler sich eher dem Aufstrebenden zuwenden, ist ihr Fokus auf Gelebtes gerichtet. Derzeit sind es die Sonnenblumen, rings um Laasow: Deren Blütezeit geht vorbei, ihre Leuchtkraft nimmt ab und die Köpfe neigen sich unter der Last. Mit dem Notizblock ist sie nach Dienstschluss in der Abendsonne unterwegs, sie hält das Vergehen skizzenhaft fest und sieht schon in Gedanken ihr fertiges Kunstwerk. Dabei ist das mit dem „fertig“ nur relativ gemeint, denn wie jeder gute Künstler verwirft sie und entwickelt immer wieder neu – um es dann doch wieder anders zu machen.

Marion Goyn über die Rolle der Kunst in ihrem Leben: „Es ist eine große Gabe, dass ich mich mit der eigenen Kunst wegbeamen kann von manchem Unsinn, Hektik und Stress dieser Welt – und zwar komplett. In der Kunst finde ich totale Entspannung!“ Die Struktur, Erhabenheit und Form des Gegenstandes zu erkennen, um dann mit einem Bleistift in der Zeichnung zu versinken – so sieht sie sich als Künstlerin. Marion Goyn: „Gerade in unserer Wegwerfgesellschaft ist es wichtig, dafür die Augen zu öffnen, Dinge wenigstens für einen Moment in ihrer Vergänglichkeit festzuhalten.“

Marion Goyn mit Skizzenblock in Laasow

Sie weiß sich mit ihrer Einstellung und ihrem künstlerischen Wirken nicht allein. Marion Goyn holt sich aus ihren Künstlerkreisen, von den Malfreunden und -freundinnen, ihr Feedback und gibt selbstverständlich auch ihres zurück. Sie fand Anschluss bei der Freien Malgruppe im Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst in Cottbus, bei den Peitzer Landmalern und im Kunstverein Sächsische Schweiz e.V. Es folgten Malreisen, Akt-, Portrait-, Landschaftsmalkurse mit unterschiedlichen Künstlern, wie mit dem Bildhauer Hans Georg Wagner oder Andreas Garn. Die Kurse in der Sommerakademie in Riesa waren vor allem mit dem Maler und Grafiker Peter Pit Müller ein besonderes Erlebnis für sie.

„Uta-die schönste Frau des Mittelalters“, Acryl auf Keilrahmen, 80 x 120, 2024

Ihr gelingt es, ihre berufliche Tätigkeit mit der Kunst zu verknüpfen. Marion Goyn schafft Ausstellungsmöglichkeiten für andere regionale Künstlerinnen und Künstler und initiiert mit ihrem Team kleine Kunstprojekte, wie den Kunst Raum (K) Calau.

Zusammenfassend sieht sie sich als eine Künstlerin, die Persönliches in der Kunst verarbeitet, sie möchte Wut und ebenso die Liebe zeigen, Sehnsüchte zum Ausdruck bringen, wie beispielsweise den ganz einfachen Wunsch nach einem Sommerregen in einem ihrer letzten Bilder: Ein dunkler Gewitterhimmel steht über trockenen Feldern, die sich dem hoffentlich Erlösung bringenden Wolken hinzuwenden scheinen.

Privat hat Marion Goyn, im 60. Lebensjahr stehend, ihr spätes Glück im Kunsthaus Laasow gefunden, beim freischaffenden Künstler Willi Semler. Sie nennen sich „Zweiklang“ und inspirieren sich gegenseitig auf sehr unterschiedlichen Kunstwegen. Gemeinsam versuchen sie mit der Öffnung des Ateliers, einem ehemaligen Gasthof, für den Ort, die Umgebung und für Touristen eine kulturelle Bereicherung zu sein. Dafür bekommen sie positive Rückmeldungen und Unterstützung von Freunden und besonders auch von den Laasowern.

Besucher des Laasower Kunsthauses fragen manchmal leicht irritiert, welcher Künstler welches Werk denn nun eigentlich geschaffen habe. Marion Goyn hat eine ganz pragmatische Antwort: „Das Normale bin ich, das Verrückte ist Willi!“

Peter Becker, 06.08.24

ZEITRÄUME heute & gestern

Eine Ausstellung von Marion Goyn und Willi Selmer auf der Burg Friedland, Vernissage am 21. September 2024

www.kunsthauslaasow.de

Über Peter Becker 389 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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