Der kleine niederlausitzer Ort Casel nahe Drebkau lädt seit Jahren zu einem Fest der besonderen Art ein. Zu „Johannis“, der Zeit der Sommersonnenwende, findet ein Reiterfest statt, dass nicht, wie anderswo üblich, das Wettrennen der Pferde zum Inhalt hat, sondern das Rennen um den Reiter, genauer: um seiner angenähten Blumen- und Pflanzengebinde, besonders seiner Krone, habhaft zu werden. Mutige Männer und Frauen versuchen den Reiter zu greifen oder ihn gar vom Pferd zu holen.
Dieser Brauch wird seit Jahrhunderten in Casel gepflegt und ist mit wenigen Ausnahmen jährlich durchgeführt worden. Auch in diesem Jahr steht offensichtlich wieder das ganze Dorf hinter dieser Tradition, denn die Hoftore sind mit Blumengebinde und sorbischen Schleifen geschmückt. Hintergrund des Festes ist der heidnisch-slawische Glaube, dass in der kürzesten Nacht des Jahres geerntete Pflanzen und Blumen glückversprechend sind, besonders, wenn sie von einem Reiter, dem „Johann“, getragen und ihm dann wieder mit Mut und Kraft aus vollem Galopp vom Leibe geholt werden. Je mutiger derjenige ist und je größer seine Blumen- und Pflanzenbeute, desto glücklicher wird sein Jahr verlaufen.
In diesem Jahr war es wieder Tobias Richter, der nun schon zum fünften Mal den Johannis darstellt – und der einen Rekord aufstellte: Er schaffte zwölf Runden auf dem Reitplatz, bevor er seiner Krone und Teile seines Blumenschmucks entledigt, aufgeben musste.
Schon am Donnerstag begann das Sammeln der Kornblumen, der Binsen und einiger weniger Seerosen. Die Caseler gaben sich Tipps, wo es noch die meisten Kornblumen gab, denn die waren in diesem Jahr schon fast schon am Verblühen. Aus Erfahrung klug, wurden die geernteten Blüten dunkel gelagert, damit sie nicht ausbleichen. Die Kornblume steht für Reichtum und Treue, denn sie wächst immer nach und trotzt allen Widerständen. Die Binsen stehen für Stabilität und einfache Verwendbarkeit, aber auch für Heilmittel gegen Verletzungen. Die Krone des Johannisreiters besteht daher auch überwiegend aus den Festigkeit gebenden Binsen.
Mädchen und Frauen binden die Kornblumen zu Ranken, die am Veranstaltungstag dem Reiter angenäht werden. Über 60 Ranken muss sich Tobias Richter in einer fast zweistündigen Prozedur an seine Kleider annähen lassen. Die Näherinnen tragen dazu die Caseler Arbeitstracht, die in den traditionellen sorbischen Farben blau, rot und weiß gehalten ist. Dem langen Stillstehen des Reiters (jede Bewegung könnte schmerzhafte Nadelstiche zur Folge haben) folgt der Ausritt aus dem Dorf, angeführt von den Trachtenfrauen und einer Reiterbegleitungen.
Laura Liesk und Josephine Gedai tragen die Krone voran, die der Reiter für sich selbst als Glücksbringer behalten kann oder von diesem an eine Person seiner Wahl verschenkt wird. In diesem Jahr durfte sich Josephine über die Krone freuen, nach dem im Vorjahr Laura dieses Glück beschieden war. Laura Liesk ist seit 14 Jahren dabei, und als 14-Jährige band sie das erste Mal die Kornblumenranken. Das Traditionelle liegt der Altdöberner Grundschullehrerin sehr am Herzen, sie gibt ihre Erfahrung beim Binden und Annähen gern an die allerjüngsten Mädchen weiter, die sich, wie sie einst, ebenfalls der Traditionsbewahrung verschrieben haben.
Auf dem Reitplatz folgt vor vielen Hundert Zuschauern dann der mehrmalige Ritt über den Platz. Dabei scheiden immer mehr Reiter „entkräftet“ aus, sodass nur noch der Johannisreiter allein über den Platz galoppiert. Dies ist auch der Zeitpunkt, an dem die mutigsten der Zuschauer und Zuschauerinnen die Absperrung überwinden dürfen, um sich auf die Jagd nach dem Glück zu begeben. Tobias Richter gelingt es immer wieder, ihnen geschickt auszuweichen und rettet sich so über die Runden – am Ende sind es die erwähnten zwölf, die einen neuen Reiterrekord in der Vereinsgeschichte darstellen. Während der kurzen Erholungspausen der Reiter und deren Pferde, erläutert Platzsprecherin Kathleen Theimer den Hintergrund des Johannisreitens und geht dabei besonders auf die Bedeutung der benutzten und letztlich zu „erjagenden“ Pflanzen ein, die einst in der Volksmedizin große Bedeutung hatten, Heilung versprachen und somit Glück brachten.
Die Krone erbeuteten letztlich zwei Männer in Teamarbeit. Kurz danach gab auch der Reiter auf und ließ sich widerstandslos alle weiteren Accessoires vom Laibe reißen, besonders die Kinder waren dabei besonders fleißig und zeigten danach voller Stolz ihren Eltern die manchmal schon arg zerstörten Blumenreste – ihre selbsterbeuteten Glücksbringer.
Peter Becker, 24.06.24
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