Jung, unschuldig, ahnungslos – dennoch gebüßt!
Ein schöner Sommertag ging zu Ende, nichts ahnend fuhr an diesem 26. Juli 1945 der 14-jährige Boblitzer Junge Rudi Noack stolz mit seinem Trecker von der Feldarbeit kommend, zurück auf den elterlichen Hof. So unmittelbar nach dem Krieg wurde jede Hand gebraucht, da fragte niemand nach Qualifikation oder Alter – das Leben musste wieder neu organisiert werden und Rudi war auch ohne Schulabschluss eine vollwertige Arbeitskraft. Gerade angekommen, wurde er plötzlich von russischen Soldaten mit vorgehaltenen Maschinenpistolen vom Sitz gezerrt: „Du mitkommen!“: Es begann ein Leidensweg, der erst 3 Jahre und genau 1 Tag später enden sollte.
Rudi Noack wurde mit weiteren Boblitzer Jugendlichen an diesem Tag verhaftet, wie Heini Koschmann (15), Willi Ulich (13), Willy Giesen, Günther Kaiser, Joachim Schmidt und Gerhard Klauck (alle 14). Zu Fuß und unter Bewachung wurden sie in den KGB-Keller nach Lübbenau verbracht. Dieser befand sich in einem Gebäude auf dem heutigen Standort des Autohauses Lowka. „Du Werwolf!?“ So lautete jede Nacht der Vorwurf und die Frage des Verhör-Offiziers, eine ganze Woche lang. Rudi und seine Leidensgefährten wussten gar nicht, was sie mit dieser Verdächtigung anfangen sollten und verneinten natürlich diese Frage, um recht schnell wieder nach Hause zu kommen. Ein tragischer Irrtum: Nun setzten weitere Verhöre ein, diesmal in einem Keller in der Kreisstadt Calau (ein Gedenkstein erinnert heute an diesen Ort) und anschließend in Cottbus, wohin man die inzwischen auf 20 Jungens angewachsene Gruppe brachte. Ein Lanz-Bulldog zog 2 Hänger von Calau nach Cottbus, auf dem ersten die Verhafteten und auf dem 2. die schwerbewaffneten russischen Bewacher. Im Cottbuser Gefängnis am Gerichtsberg war es ebenso wie auf den ersten Stationen – immer wieder Verhöre und fast nichts zu essen, lediglich gekochte Gurken und dazu eine Scheibe Brot, sonst nichts!
Am 14. September 1945 ging es wieder auf Fahrt, diesmal nach Ketschendorf. Hier war es noch schlimmer, die 20 Jungen hausten auf 20 Quadratmeter in einem Keller auf dem Fußboden, keine Decken – nichts, ein halbes Jahr lang, nun schon im Winter. Erst dann durften sie in die etwas wärmere 1. Etage umziehen. Zur sehr kargen Verpflegung gehörte nun ein Löffel Rohrzucker, eine Köstlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen. Nach einem weiteren Umzug kam eine „Hafterleichterung“ hinzu: Die tägliche Waschung an einer Pumpe im Hof! Wohltuend empfanden die verstörten Jungen das engagierte Auftreten der jungen russischen Lagerärztin, die sich für diese Inhaftierten einsetzte. Sie erreichte, dass es nun ab und zu mal Kartoffeln, Rüben und als Vitaminspender Brennnesselsalat gab. Für Heini Koschmann kam das alles allerdings zu spät, er starb im Lager Ketschendorf an einer Lungenentzündung.
Über die Zwischenstation Jamlitz, wo damals 10200 Häftlinge ihr Leben verloren, kamen die Jugendlichen am Ostersonntag 1947 in Buchenwald an. Sie lebten zu Hundert auf Holzpritschen mit Strohsäcken – und mit jeder Menge Wanzen. Am schlimmsten jedoch war das Untätigsein: Außer Zählappellen passierte nichts mit ihnen, niemand bekam eine Arbeit oder andere sinnvolle Tätigkeit zugewiesen. Das Essen war karg und ebenfalls mehr als eintönig: Täglich eine Scheibe Brot und ein Teller dünne Suppe! Aber im Frühsommer 1948 begann sich die Haftsituation langsam zu bessern, die Bettwäsche wurde nun öfter gewechselt und auch die dringend nötigen Entlausungen folgten in kürzeren Abständen. An einem Juliabend kam plötzlich nach dem Zählappell der ihnen schon aus anderen Lagern grausam bekannte Befehl: „Morgen: Bereithalten!“ In Erwartung einer unklaren Zukunft verbrachten die Jungen die Nacht nahezu schlaflos, jeder war mit sich beschäftigt. Rudi Noack hatte sich das Ziel gesetzt, in dieser Buchenwald-Nacht so viele Wanzen wie möglich zu zerquetschen… eine letzte Rache an den Quälgeistern.
Am Morgen bekamen sie aber zu ihrem Erstaunen Anzüge angepasst, jeder bekam auch 35 Mark in die Hand gedrückt! Dann mussten sie auf einen russischen Militär-Lkw aufsitzen, die Fahrt ging diesmal aber nicht weit: Am Bahnhof Weimar hieß es „Alle runter!“ Langsam begriffen sie, dass sie nun endlich frei waren! Jemand kaum auf die Idee, sich in der Bahnhofsgaststätte mal richtig satt zu essen. Der Kartoffelbrei und das Spiegelei wurden ihnen aber zum Verhängnis, der entwöhnte Magen entleerte sich umgehend von der ihm ungewohnten Nahrung. Mit Bauchschmerzen, aber dennoch voller Freude ging es mit dem nächsten Zug heimwärts. Am 27.07.1948 traf Rudi in Boblitz seine Mutter wieder. Sie entlud gerade Heu aus dem Kahn als sie erschrocken bei der ihr wohlbekannten Stimme zusammenzuckte: Die ganze Zeit hatte sie nichts von ihrem Sohn gehört, sie wähnte ihn schon lange tot!
Rudi Noack, ein Junge aus Boblitz, wurde zur falschen Zeit erwachsen und musste wie so viele andere seines Alters für die Politik des verbrecherischen NS-Systems den Kopf hinhalten. Unschuldig verlor er 3 Jahre seiner Jugend!
Er lebte danach Jahrzehnte im benachbarten Raddusch und betrieb mit seiner Frau und der Tochter ein Friseurgeschäft, bis 2009 zeigte er noch als Fährmann den Gästen den schönen Spreewald. Aber die Zeit vor über 60 Jahren ließ ihn nie los, immer wieder kamen die Erinnerungen auf. Besonders dann, wenn der 26. Juli und der 27. Juli auf dem Kalender standen.
Rudi Noack verstarb am 3. März 2017 in Raddusch
Peter Becker, 18.08.23
Info: Im April 1945 wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht ein Internierungslager unter der Bezeichnung „Speziallager Nr. 5 Ketschendorf“ in der ehemaligen DEKA-Siedlung eingerichtet. In diesem Lager wurden insgesamt ca. 10.500 Internierte ohne Urteil festgehalten. Im Frühjahr 1947 wurde dieses Lager aufgelöst. In der kurzen Zeit des Bestehens des Lagers Ketschendorf gab es 4.620 Tote, was auf die katastrophalen Lebensbedingungen in diesem Lager hinweist. (MWFK)
Das sowjetische Speziallager Nr. 6 Jamlitz bestand von September 1945 bis April 1947. Nach sowjetischen Unterlagen durchliefen etwa 10.200 Gefangene der Besatzungsmacht dieses Lager, beinahe jeder Dritte fand dort den Tod.
Was für eine bewegende Geschichte. Vielen Dank dafür.
Im Krieg setzt die Vernunft aus und meistens leiden die Unschuldigen. Im Jahr 1945 haben die Russen schon nach Planzahlen gearbeitet. Die Werwolf-Vorgabe für den Spreewald belief sich vielleicht auf 20. Da wurden oft beliebige Personen aufgegriffen. Wer zu falschen Zeit am falschen Ort war, den hat es erwischt.
Aus meiner Heimat Thüringen kenne ich ähnliche Vorfälle. Wenn bei einem Gefangenentransport einer floh, so wurde dafür ein unbeteiligter aufgegriffen und eingereiht. Hauptsache die Anzahl stimmte.