China 2018 – ein Blick hinter die Glanzfassaden

Volkspalast in Chongqing

„Hast du eine eigene Wohnung? Hast du ein eigenes Auto, möglichst ein deutsches? Leben deine Eltern noch?“ Dies sind die Fragen, die die jungen Chinesinnen ihren Avancen machenden Bewerbern stellen. Im Land herrscht dramatischer Männerüberschuss – die Damen können es sich leisten, sehr wählerisch zu sein. Schließlich gibt es in China 34 Millionen Männer zu viel[1]. Dies ist eine Folge der Ein-Kind-Politik, die zumindest auch noch dem traditionellen Rollenbild vom „wertvolleren“ Jungen geschuldet ist. War das erste Kind ein Mädchen, gab es manchmal die Erlaubnis zum zweiten Kind. Im Shanghaier Volkspark ist die Pinnwand voll mit Inseraten, die sich oberflächlich wie ein Gebrauchtwagenhandel lesen. Eltern wie Großeltern preisen ihren männlichen Nachwuchs an, mit all seinen Vorteilen. Die jungen heiratswilligen Damen haben die Auswahl! Manch junger Mann sitzt perfekt gestylt mit einem Schild und der Aufzählung seiner Vorzüge auf einer Parkbank und lässt sich von der Damenwelt (oder deren Eltern) taxieren, die manchmal die Handynummer notieren oder den QR-Code zu seiner Webseite scannen. Ihm bleibt die Hoffnung auf einen Anruf oder eine SMS.

Dem Heiratsproblem steht auf der anderen Seite ein Alterungsproblem gegenüber. China altert schnell, statistisch kommt nur wenig nach – auch eine Folge der Ein-Kind-Politik, die inzwischen allerdings auch gelockert wurde. Zwei oder drei Kinder gelten staatlicherseits als kein großes Problem mehr, allerdings eher bei den Paaren. Viele wünschen sich gar kein Kind, denn es belastet den Alltag und hindert bei der Teilnahme am „westlichen“ Lebensstil, bei dem die Entfaltung der persönlichen Freiheit, der Erlebnishunger, Reisen und Wohlstand im Mittelpunkt stehen. Eine Eigentumswohnung, möglichst komfortabel und in bester Wohnlage, steht ebenfalls hoch im Kurs. Parkt dann auch noch ein deutsches Luxusmobil vor der Tür und Eltern brauchen nicht mehr versorgt zu werden, weil sie bereits verstorben sind, denken Paare durchaus auch über eigenen Nachwuchs nach. Ihre Eigentumswohnung können sie aber nur bedingt vererben, denn nach 70 Jahren fällt sie automatisch in die Hände des Staates. Dieser sorgt für einem gnadenlosen Bauboom: Ganze Altstadtviertel werden der Abrissbirne geopfert, im Hintergrund schießen gleichzeitig Wolkenkratzer in die Höhe, teils mit Miet-, teils mit Eigentumswohnungen. Straßen werden autobahnmäßig ausgebaut und enden außerhalb der Städte oft abrupt an den Reisfeldern – es dürften keine Zweifel bestehen, dass sie irgendwann fortgeführt werden, quer durch die Landschaft, die fast immer eine Landwirtschaft, vorrangig mit Reisanbau, ist. Das Milliardenvolk ist auf jeden Quadratmeter Anbaufläche angewiesen, hinter fast jedem Haus beginnen in vielen Gegenden die Reisfelder.

Reisen – fahren oder fliegen?

Die Turbo-Entwicklung ist auch beim Eisenbahnwesen zu beobachten. Bahnhöfe wie Gleisanlagen entstehen völlig neu. Auslegungsverfahren, Wider- und Einsprüche scheint es nur formell zu geben, denn anders ist die rasante Schnelle nicht zu verstehen. Bahnhöfe in den Großstädten wie Xian, Honchu, Guillin oder Schanghai ähneln eher Flughäfen. Die Abfertigung ist ebenso: Schon beim Eintritt ins Gebäude wird das Gepäck durchleuchtet und der Pass gescannt. Eintritt bekommt auch nur, wer eine gültige Fahrkarte (oder eine gültige Handyapp) hat. Fahrkarten werden sitzplatzgebunden verkauft – wenn alle Plätze vergeben sind, gibt es keine mehr. Dies hat den Vorteil, dass es keine überfüllten Züge gibt und dass am Bahnsteig, an dem der Zug exakt nur zwei Minuten hält, kein Gedrängel entsteht. In den Marmorfliesen ist die Wagennummer eingelassen, an dieser Stelle befindet sich dann auch zentimetergenau die Tür des Waggons. Spürt der Reisende Hunger, scannt er den QR-Code, der zweckmäßigerweise an der Rücklehne des Vordersitzes angebracht ist. Beim nächsten Halt, der etwa in einer Stunde erfolgt, wird ihm das frisch zubereitete Gericht von einem Boten an den Platz gebracht. Der kommt von einer nahegelegenen Gaststätte, die die Bestellung aufgenommen hatte. Bezahlt wurde ohnehin schon während der Bestellung, ganz wie im Internet üblich. Und pünktlich kommt die Bahn, die sich meist mit 300 Kilometer pro Stunde bewegt, ohnehin an. Das gilt in China als Selbstverständlichkeit. Ein Flug über vergleichbare Distanzen ist nicht schneller, nur oft teurer.

Moderner Schnellzug bei einem Zwischenstopp auf einem Provinzbahnhof – 120 Sekunden Zeit für ein Foto.

Der Straßenverkehr ist nichts für Ordnungs- und Regelungsbessene

Würde in Deutschland jemand bei Rot über die Kreuzung fahren, wäre das schon eine Ordnungswidrigkeit. Die Ampeln in China scheinen eher mehr Empfehlungscharakter zu haben: Jeder fährt wie Platz ist, dabei mal hupend, aber niemals kopfschüttelnd oder gar den Finger an der Schläfe. Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme ist die scheinbar einzige Regel die funktioniert, sie kommt auch dem ausgeprägten Harmoniebedürfnis der Chinesen entgegen. Das Moped ist das Hauptverkehrsmittel, allerdings das batteriegetriebene. Benzinmotoren sind im Straßenverkehr selten geworden, immer mehr Pkw’s werden elektrisch angetrieben. Für Vergasermotoren bestehen in den Innenstädten bestimmte Regelungen. Wer eine ungerade Endziffer im Kennzeichen hat, darf vielleicht nur Montag und Mittwoch fahren.

Die Energie für die Millionen Elektrofahrzeuge kommt aus den Wasserkraftwerken, aber eben auch aus den vor der Stadt liegenden Kohlekraftwerken. So soll die Luft in den Städten zwar besser werden, sie ist es zumindest gefühlt eher nicht. Übers ganz Land liegt eine gewisse Dunstglocke. Tiere und Insekten sind sehr selten geworden, sie haben die Städte wohl längst verlassen. Besonders die jungen Menschen, die noch eine hohe Lebenserwartung vor sich haben könnten, achten auf Sauberkeit und tragen oft Mundtücher. „Ich will noch ein paar Jahre leben und gesund bleiben, bald auch eine Familie haben“, begründet die junge Dolmetscherin, die im „schönen sauberen Deutschland“ studiert hat, ihr Mundtuch. Obwohl China zu den weltgrößten Erzeugern von Photovoltaikanalgen gehört, sind sie im eigenen Land eher selten zu sehen, ebenso die Windkraftanlagen.

Mit dem Daumen wird bezahlt

Das Handy ist zu einer beliebten Zahlungsmethode geworden, die besonders bei jungen Leuten gut ankommt. Eiskauf geht etwa so: Eis bestellen, Handy mit der Bankapp zeigen, Verkäufer scannt und Kunde bestätigt mit seinem Daumenabdruck. Was bei vielen Europäern und besonders bei den deutschen Bedenkenträgern für ein zu großes Risiko gehalten wird, wird von den Chinesen als willkommene Neuerung und Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit begrüßt. In Gesprächen war immer wieder zu hören: Mir kann keiner mehr Bargeld entwenden, Geld beim Automaten holen ist zu unsicher und der Händler muss keine Angst vor einem Überfall haben. Bargeld zu bekommen, wird in China immer schwieriger, da es immer weniger Geldautomaten gibt. Den „Langnasen“ wie die Nicht-Asiaten gern genannt werden, wird dagegen gern der Tipp gegeben, schön auf ihr Geld aufzupassen, denn für Taschendiebe sind sie immer noch ein leichterkennbares und oft sehr lohnendes Ziel.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Kriminalität scheint es in China ohnehin kaum zu geben. Penible Kontrollen, Polizeipräsenz, Überwachungskameras an jeder Ecke, umfassende Verbote und drakonische Strafmaßnahmen haben das Land sicher gemacht. Langfinger und Falschgeldwechsler sind daher sehr selten, aber eben gelegentlich vorhanden.

Wer von Peking über Xian, Chengdu, Gullin, Schanghai und Hongkong reist, erlebt überall eigentlich das Gleiche. Die Menschen sind trotz aller Widrigkeiten des Alltags glücklich, sie lassen sich ihr asiatisches Harmoniebedürfnis nicht zerstören, sie tanzen gern in den Parks oder machen ihre ausgedehnten Tai-Chi-Übungen wo überall sich der Platz dafür anbietet. Sie treten Ausländern offen gegenüber, bitten immer wieder um ein Selfie mit einer „Langnase“ und sind sehr hilfsbereit. Auffällig ist die überall zu beobachtende Sauberkeit, stets ist jemand mit Kehrgerät unterwegs. Leider funktioniert die Mülltrennung nicht überall, alles kommt in die gleiche Tonne. Chinesen lieben Plastikverpackungen, vieles wird mehrfach damit verpackt.

Zum Reisealbum

[1] FAZ, 06.10.2015

Über Peter Becker 361 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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