HEEDEKINDER
Die Region zwischen Görlitz und Rietschen, in der heutigen Oberlausitz gelegen, wird von den Einheimischen wegen ihres Waldreichtums „Heede“ (hochdeutsch: Heide) genannt. Hier liegen die meisten Handlungsorte einer durch die Zeiten und Umstände geprägten Familie. Marie, die vom Gutsherrn Vergewaltigte, Anna, eine der ersten Fotografinnen und Elisabeth, die Hintergangene, sind starke Frauen, die sich in einer durch Männer bestimmten Welt durchsetzen, sich nicht unterkriegen lassen und letztlich die Geschicke selbst in die Hand nehmen. Zwei Weltkriege rütteln das Leben durcheinander und schweißen wieder zusammen. Auch die Söhne und Väter sind durch die Zeiten gezeichnet und müssen ihr Leben an der Seite ihrer starken Frauen ebenso meistern. Manfred durchlebt zwei Gesellschaftsordnungen und muss sich anpassen. Die Handlungsorte sind real, die handelnden Personen und ihre Geschichten mal mehr, mal weniger und tragen romanhafte wie autobiografische Züge gleichermaßen, Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
MARIE
Marie stellte die Krüge ins Regal. Gestern gab es eine kleine Feier fürs Personal anlässlich des Kaufs des Gutes Deutsch-Paulsdorf, unweit von Görlitz gelegen. Der neue Rittmeister, Hilmar Detloff von Wuttenow, stellte sich vor und spendierte ein Fass Bier aus der erst kürzlich gegründeten Görlitzer Landskron Brauerei. Knechte und Mägde stießen auf das Wohl ihres neuen Herrn an und machten sich danach wieder an die Arbeit in Feld, Stall und Küche. Die Küche, das war das Reich von Marie und Berta, der Köchin. Beide Frauen verstanden sich, obwohl oder auch weil Berta deutlich älter war. Die Erfahrene konnte der Siebzehnjährigen aus Görlitz, die von ihrer Mutter aufs Gut ins nahe Deutsch-Paulsdorf vermittelt wurde, viel beibringen. Anna blickte zur in allen Lebensdingen erfahren Köchin fast ehrfurchtsvoll auf. Was die alles wusste… Sie wusste auch, dass der neue Herr schon Güter im Sächsischen und im Anhaltinischen hatte, dass er verheiratet war und einen 13-jährigen Sohn, Fritz, hatte. „Den hat er gleich in die Stadt (sie meinte Görlitz) geschickt, der soll dort auf dem Internat bleiben.“
Hilmar von Wuttenow war schon Mitte Fünfzig, als er sich 1872 das Gut im Niederschlesischen aneignete. Hochaufgewachsen, schlank, wenn auch graubärtig, machte er auch in diesem Alter noch Eindruck. Berta, die erfahrene Frau mit drei Kindern, aber ohne Vater dazu, nahm das zur Kenntnis und schickte gleich eine Warnung an ihre junge Küchenhilfe: „Pass auf, der neue Herr hat dich gestern sehr lange angesehen und dir immer wieder hinterher geschaut. Der könnte was im Schilde führen…!“ „Was denn, was soll er mit mir kleinem Dienstmädchen schon anfangen wollen?!“ „Dass er verheiratet ist, spielt in diesen Kreisen eine Rolle, aber keine große. Erst versprechen sie dir die Ehe und wenn sie dich erst mal im Bett gehabt haben, wollen sie davon nichts mehr wissen!“ Anna war das Gespräch peinlich, sie stellte die letzten gespülten Krüge ins Regal, band sich die Schürze ab und suchte nach einem Vorwand, die Küche zu verlassen. Doch Berta ließ nicht locker: „Weißt du überhaupt, woher die Kinder kommen? Ich glaube nicht…!“ „Klar weiß ich das – wenn sich die Eltern eins wünschen, kommt eins.“ Berta schüttelte den Kopf über so viel Naivität. „Wie alt bist du? 17? Du bist mir ja ein schönes Dummchen…!“ Anna war froh, als die Gutsglocke schellte und das Personal zur Arbeitseinteilung rief. „Ich muss da hin, muss wissen, wann die Schnitter das Essen aufs Feld gebracht haben wollen“, rief sie beim Fortgehen in die Küche zurück. Zu ihren Aufgaben gehörte das Liefern der Vesper auf die Felder und Wiesen, damit Schnitter, Knechte und andere Helfer zügig durcharbeiten konnten, die Pause kurz blieb und das Tageslicht voll genutzt werden konnte. Auf den Feldern, beim Auspacken der Schmalz- und Marmeladenschnitten, beim Einschenken von Malzkaffee und beim Wiedereinpacken der Krüge, musste sich die Blondine mit den langen Zöpfen schon ab und zu mal ein paar flotte Sprüche anhören. Deren Inhalt verstand sie meist nicht so recht. Erst recht nicht die der polnischen Schnitter, bei denen sie glücklicherweise mal nicht rot werden konnte. Das wurde sie meist, wenn es sich wieder einmal auf ihren Blusenausschnitt bezog. Manchmal, wenn es besonders warm war, öffnete sie schon mal ein oder zwei Knöpfe auf dem Weg zum Feld, vergaß sie aber manchmal rechtzeitig zu schließen. Die Knechte ließen sich immer wieder Malzkaffee einschenken und mussten laut lachen, wenn sich Marie über deren Durst laut wunderte – bis sie es mitbekam und knallrot alle Knöpfe, sicherheitshalber bis zum Hals, schloss.
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