Die Radduscher Buschmühle – Erinnerungen

Radduscher Buschmühle mit Magnolie

Müllerskinder – Kindheit in der Radduscher Buschmühle

„Am liebsten fingen wir Krebse, denn davon gab es damals sehr viele.“ Ilse Nass* kommt ins Schwärmen, wenn sie von ihrer unbeschwerten Kindheit in der Radduscher Buschmühle berichtet. „Gemeinsam mit meiner 2 Jahre jüngeren Schwester ließen wir an der damals nagelneuen Schleuse in der Grobla, wie das Leinweberfließ in Raddusch heißt, einfach Schnüre herunter an denen sich die Krebse festhielten und wer die meisten Krebse gefangen hatte, war Sieger! Die Krebse wanderten dann im hohen Bogen zurück ins Wasser. Mit den Dorfkindern tollte ich auf den Wiesen herum,  zog durch die Büsche oder stakte mit dem Kahn durch den Spreewald. Mein Lieblingsversteck war die Hundehütte: Bestens bewacht konnte sich mir niemand nähern, wenn ich es nicht wollte. An den langen Winterabenden wurde bei Petroleumlicht viel erzählt, gebastelt, gespielt und gesungen, das elektrische Licht kam ja erst 1955, aber da war ich schon außer Haus verheiratet.“ Vater Rudolf Heinze (Jg. 1894) hatte die Mühle 1935  von seinem Vater Ludwig übernommen, der sie wiederrum 1894 vom Müller Stoyan erwarb, weil der entnervt aufgeben hatte, wie Ortschronist Manfred Kliche zu berichten weiß: „Der wohl abergläubige Stoyan hielt das angebliche nächtliche Spuken in der Mühle nicht mehr aus und suchte schleunigst einen Käufer und fand ihn in Ludwig Heinze. Der vernahm aber auch bald die nächtlichen Geräusche und, weniger an Übersinnliches glaubend, legte er sich mutig auf die Lauer. So konnte er bald eines Nachts den etwas einfältigen Knecht eines Radduscher Bauern überwältigen.  Der von Heinze zur Rede gestellte Bauer gab nach einigem Zögern an, dass man sich im Dorf einig war, den Hinzugezogenen Nicht-Radduschern Stoyan und nun eben auch dem gebürtigem Schlesier Pfarrerssohn Heinze das Leben in der Mühle schwer zu machen, man mochte damals Fremde nicht!“

Die Mühle wurde als Kundenmüllerei betrieben, die Bauern brachten das Korn und warteten auf das geschrotete Getreide oder Mehl. Mahlkunden kamen aus Burg-Kolonie , Raddusch und mit der Einstellung des Mahlbetriebes  in der Dubkow-Mühle 1919 vor allem auch aus Leipe. Bezahlt wurde das Mahlen früher mit der „Metze“, dem Sechzehntel des gemahlenen Mehls.  Da der Müller Schankrecht besaß, dürfte die Wartezeit nicht allzu lang geworden sein, denn bis 1944 durften Branntwein,  Bier sowie Kuchen und kleinere Speisen verkauft werden; beide Mädchen halfen gelegentlich beim Ausschank.

Eigentlich wollte Rudolf Heinze Lehramt studieren, aber die familiären Umstände, der väterliche Willen, ließen ihn zum Müller werden. Er heiratete 1928 die Kahnsdorferin  Anna Tiltag (Jg. 1898), 3 Kinder wurden geboren. Der einzige Sohn kam eineinhalbjährig tragisch ums Leben, er fiel in die Grobla und ertrank – ein furchtbarer Schicksalsschlag, besonders für den Großvater, der den Jungen beaufsichtigen sollte! Ilse und ihre Schwester Hanni besuchten in Raddusch die Dorfschule, sommers wie winters legten sie die 2 km zu Fuß zurück. Im Frühjahr 1945 wurde die damals 11-jährige Ilse auf dem Weg von einem sowjetischen Jagdflieger mehrmals tief angeflogen, allerdings nicht beschossen und konnte sich nur durch Flucht in die Büsche entziehen.  Das war ihr erster und zugleich schrecklichster Kontakt mit dem Krieg, der nun auch nach Raddusch kam. Sie nahm auch die vielen hundert Flüchtlinge wahr, die sich bald rings um die Mühle niederließen; etwas Furchtbares muss geschehen sein, auch Tante und Onkel aus Frankfurt/Main wohnten wegen der Bombengefahr in ihrer Heimatstadt nun mit in der Mühle. Voller Angst nahm die Familie am 19. April 1945, der Vater war noch irgendwo an der Front, eines Nachts einen sowjetischen Offizier als „Quartiergast“ für eine Woche auf. Groß muss das Erstaunen und die Erleichterung gewesen sein, als dieser sich deutsch sprechend vorstellte, den beiden Mädchen las er später stundenlang deutsche Bücher vor – der Krieg hatte für die Kinder, so schnell er kam, auch wieder ebenso schnell einen Teil seines Schreckens verloren. „Das war ein ganz netter Mensch, wir Kinder mochten ihn sehr!“

Die Mühle hatte seit ihrer Entstehung 1777 eine wechselvolle Geschichte, sie wurde mehrfach umgebaut, zuletzt in den dreißiger Jahren, als der Mahlbetrieb von Wasserkraft auf die moderne Dieselkraft umgestellt wurde, da dem Müller aus heute unbekannten Gründen von den Behörden 1931 das Staurecht entzogen wurde. Ein starker Deutz trieb von nun an das Mahlwerk an, später kamen noch Elektromotoren hinzu. In dieser Zeit entstand im Zuge der Umbauarbeiten auch eine neue Schleuse. Der Reichsarbeitsdienst hatte 1935 einen Weg vom Dorf zur Mühle angelegt und Heinzes ließen auf ihre Kosten eine hölzerne Zugbrücke über die Grobla errichten. Die Radduscher Bauern nutzten natürlich gern diese neue Möglichkeit, um auf ihre Wiesen hinter der Buschmühle zu kommen. Bisher war das nur umständlich mit dem Kahn möglich, nun konnten die schwer beladenen Ochsen- und Pferdegespanne die Ernte nach Hause bringen, allerdings führte der Weg über die Brücke direkt an der Haustür der Müllers-Familie vorbei, mit allem Lärm und tierischen Hinterlassenschaften, auch die einfache Holzkonstruktion litt bald unter der starken Belastung. Der Ärger des Müllers über die oft rücksichtslosen Bauern war groß, so groß, dass sogar der Gemeindevorstand ein Einsehen hatte und eine neue Brücke, nun  50 m stromaufwärts, errichten ließ. Wegen der Kriegs- und Nachkriegswirren konnte dieser Plan aber erst um 1955 umgesetzt werden.

In der Mühle fand der Mahlbetrieb noch bis 1952 statt, für den Eigenbedarf sogar noch bis 1999. Tochter Ilse heiratete 1953 in das Dorf und führte mit ihrem Ehemann einen Landwirtschaftsbetrieb, Tochter Hanni ging später als Ingenieurin in das Kraftwerk Lübbenau. Das Gebäude wurde 1977 endgültig vom Vater verlassen, dessen Frau schon 1972 verstarb, er fand nun Quartier bei seiner Radduscher Tochter. Die Schwestern wollten Elternhaus und Grundstück für die Wochenenden nutzen, einen kleinen Garten betreiben und sich dort erholen. Leider verfiel im Laufe der Jahre das Gebäude zusehends, Vandalismus tat sein Übriges und Diebstähle beraubten sie um die Gerätschaften, die letzte Schubkarre und der Leiterwagen verschwand auf diese Art im letzten Jahr! „Was habe ich hier für schöne Kindheitstage gehabt, frei von allen Sorgen und wohlbehütet“, entfährt es der heute Ilse Nass bei ihren Besuchen in der Buschmühle, wenn sie nach dem Rechten, aber wohl eher Schlechten,  immer wieder mal sieht. Jedesmal ist eine Scheibe mehr eingeschlagen, die Balken und Bretter wackeln und der Fußboden wölbt sich. Spinnen und Ratten teilen sich nun die Räumlichkeiten. Die in jedem Frühjahr von Anna Heinze (verstarb 1912) vor über 100 Jahren gepflanzte überaus reich und immer schöner blühende Magnolie (Titelfoto) am Groblaufer  scheint einen Ausgleich zum unaufhaltsamen Zerfall bilden zu wollen, mit ihrer Pracht überdeckt sie zunehmend mehr das Vergängliche und Vergangene, so als wollte sie vom Niedergang auf schaurig-schöne Weise ablenken.

Nachtrag: Investor Frank Petzold hat das Haus zu neuem Leben erweckt. Seit 2016 ist es wieder hergerichtet.

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Peter Becker

 

*Name auf Wunsch geändert

Über Peter Becker 404 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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