Eine Spreewälderin auf Reisen – auf den Spuren von Kindheit und Jugend
„Auf dem Friedhof werden meine Mädels wohl sicher sein“ dachte sich Bauer Paul Maaß als er seinen Töchtern im Spätwinter 1945 dort eine Grube aushob, in die sie sich bei Gefahr zurückziehen konnten.
Und die Gefahr war real, sehr real sogar. Täglich gab es neue Horrormeldungen aus Ostpreußen. Besonders als die Sowjetarmee bei ihrem Vormarsch die Grenze zu Deutschland überschritt und im ersten eroberten Ort Nemmersdorf Gräueltaten an der Zivilbevölkerung vornahm. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Truppen auch das kleine pommersche Dorf Zettin erreichten. Die größeren Kinder waren bereits auswärts untergekommen, etwa im nahen Stolp, aber dennoch gleichfalls in Gefahr. Gertrud und Ilse lebten noch bei den Eltern, die 16-jährige Gertrud half in der Wirtschaft eines Försters, die 18-jährige Ilse auf dem elterlichen Hof.
Paul Maaß grub eine Grube in den unmittelbar an die Bauernwirtschaft grenzenden Friedhof, schlug sie mit Brettern aus und verbrachte Bettzeug hinein. Von oben ebenfalls mit Brettern und Strauchwerk getarnt, hoffte der Vater von neun Kindern seinen beiden jüngsten im Notfall einen Schutz zu geben. Der trat schneller ein, als vermutet. Russische Truppen eroberten den Ort, zogen aber schnell Richtung Westen weiter – gerade noch rechtzeitig konnten die Mädchen ihren Unterschlupf erreichen und wurden dort auch nicht entdeckt. Die der kämpfenden Truppe nachfolgenden Soldaten ließen sich etwas mehr Zeit und durchstöberten Haus für Haus. Auch sie fanden das gut getarnte Versteck nicht, in dem die verängstigten Mädchen hockten. Eines Tages, die Mädchen waren mal kurz im Wohnhaus, wurden sie Augenzeugen eines schrecklichen Vorfalls: Ein russisches Kommando fuhr plötzlich vor und zerrte vor der Wiese des Hauses drei Knechte des nahen Putkammer-Gutes vom Lkw und erschoss sie kurzerhand. Es soll wohl um Alkoholunterschlagung gegangen sein, wie sich später rumsprach. Für die Familie ein mehr als traumatisches Erlebnis, was sich im Gedächtnis eingebrannt hat. Hinzu kam noch die Angst entdeckt zu werden, eine Flucht der Mädchen in die Grube, in der sie meist die Nacht verbrachten war nicht möglich.
Frühsommer 2017: Die Lübbenauerin Gertrud Tauche, gebn. Maaß, inzwischen 88-jährig, reist noch einmal mit ihrer jetzigen Familie zurück in die alte Heimat. Nur schwer gelangen die Bilder aus Kinder- und Jugendtagen zurück in ihr Gedächtnis. Die Landschaft, die Wege und Häuser haben sich in den Jahrzehnten verändert. „In Treblin, unserem Nachbardorf, bin ich zur Schule gegangen“, erinnert sie sich während der Fahrt durch Pommern. Und plötzlich erkennt sie im heutigen Trzebielino, am Trebliner See, das alte Gebäude wieder. Es ist Pause und mit etwas Herzklopfen meldet sie sich bei der Direktorin, die eine Deutschlehrerin hinzuzieht. Sie darf dann sogar auf ihrem alten Platz im Klassenzimmer sitzen, vor ihr ein Computer. Die Schule ist modernisiert, sehr sauber und höfliche Kinder versuchen sich in einem „Gutten Tak“ gegenüber dem deutschen Gast, der viel über die Schulzeit vor 1945 erzählen kann.
Weiter geht es ins vier Kilometer entfernte Heimatdorf Zettin (Cetyn). Die Konfirmationskirche steht noch wie immer und sieht schöner aus als früher, das angrenzende ehemalige Puttkamer-Gut ist dagegen stark verfallen. Etwas außerhalb des Ortes liegt das Vorwerk, fünf Häuser und ein Friedhof. An einer alten Scheune erkennt sie die besondere Form des Tores wieder. „Hier ist es, hier haben wir Verstecke gespielt, das Tor ging immer so schwer auf“, erinnert sie sich. Die Stimme zittert, den gleichzeitig geht ihr Blick hinüber zum Friedhof, der inzwischen aufgegeben wurde, aber noch deutlich das Gräberfeld mit vielen Kreuzen zeigt. „Hier, in dieser Ecke, hatte uns der Vater die Grube gebaut“, sagt sie nach wenigen Metern. Sie bleibt dort eine Zeit allein, dann wendet sich ihr Blick wieder dem Wohnhaus zu. Kinderlärm und Hundegebell schallen herüber. Getrud fasst sich ein Herz und nach einem „Dzień dobry“ wird sie von der jungen Familie herzlich, wenn auch fragend aufgenommen. Die Tochter des Hauses kann etwas Deutsch und schnell wird klar, um welche Art von Gäste es sich handelt. Der Besuch wird hereingebeten, zum Kaffee eingeladen und darf erzählen. Von Früher, von den Nachbarn deren Namen sie noch nennen kann, vom beschwerlichen Fußweg in die Schule nach Treblin und vom angrenzenden Kranichmoor, in dem ihre Schwester Irma beinahe mal umgekommen wäre. Sie darf sich umsehen, doch nach einem Umbau hat sich ihr Elternhaus stark verändert. Jedoch der Hof, die Scheune, der Eiskeller, der Misthaufen…. alles ist fast noch so wie früher. Gerührt bedankt sie sich bei den polnischen Gastgebern, die inzwischen in dritter und vierter Genration das Haus bewohnen. Nachdenklich nimmt sie noch einmal Abschied vom Haus, von ihrer Kindheit und ihrer pommerschen Heimat. Auf dem Rückweg ins Stolpmünder Hotel fallen ihr noch viele Geschichten von Früher ein, darunter die Flucht nach Ostdeutschland.
Sommer 1945: Gertrud Maaß hatte nach der Beruhigung der Lage inzwischen einen polnischen Pass bekommen und eine Anstellung beim Förster gefunden. Ihre Familie jedoch hatte kurzfristig den Ausweisungsbescheid erhalten und musste innerhalb weniger Tage die angestammte Heimat verlassen. „Mein Vater hat die Tiere aus dem Stall geholt und sie ihrem Schicksal überlassen, wohl wissend, dass abends die Kühe gemolken werden müssen, wenn sie nicht vor Schmerzen umkommen sollen. Tränenreich hat er sich von jeder Kuh, jedem Pferd, verabschiedet. Schließlich waren sie es, die der kinderreichen Familie das Leben, wenn auch ein sehr bescheidenes, sicherten. Es hat ihm das Herz gebrochen und er ist 1949 im sächsischen Präbschütz, dem zugewiesenen Ort, vor Kummer verstorben“, erinnert sich seine Tochter an den Moment des endgültigen Abschieds aus der Heimat. Er war doppelt schwer für sie, denn sie durfte nicht mit der Familie reisen. Ihr polnischer Arbeitgeber verbot ihr dies, schließlich war sie ja amtlich eine „Polin“ und unterlag nun der polnischen Gesetzlichkeit. Doch ihre Gedanken waren stets bei ihren Eltern und Geschwistern, von denen sie keine Nachricht bekam.
Mit einer Freundin, mit der sie ein ähnliches Schicksal verband, schmiedeten sie Fluchtpläne. Im Frühjahr 1947 gelang es ihnen, ihre (Zwangs-)Arbeitsplätze zu verlassen. Ausgerechnet ein Sowjetsoldat, immer noch der Feind in den Augen vieler, half ihnen. Er hatte eine Fahrt nach jenseits der Oder zu machen und versteckte die beiden auf der Ladefläche seines Lkw. In Deutschland angekommen machte sich Gertrud mit Hilfe des Roten Kreuzes auf die Suche nach ihren Eltern, die sie schließlich auch fand. Ihr Leben verlief über viele Stationen mit „Zwischenheimaten“ in der ehemaligen DDR bis nach Lübbenau. Sie weiß ihre Kindheitsheimat nun gar nicht mehr so weit. In wenigen Autostunden könnte sie wieder dort sein.
Lesetipp: Dirk Klingner; Geschichte des Dorfes Zettin, BoD – Books on Demand, Norderstedt 2022, ISBN 978-3-7568-4565-1
Peter Becker, 03.06.17, ergänzt 12.11.22
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