Kinder im Backofen (2)

Wenn Kinder im Backofen sind, muss das nichts mit Märchen zu tun haben. Im Spreewald gehörte es zur damals oft üblichen und weit verbreiteten Kinderarbeit, Flachs und Obst im Backofen nachzutrocknen – ein Ort, der nur kleinen Kindern zugänglich war.

Nachstellung einer damals üblichen Szene (Allerdings wurde nur ausgedroschener Flachs verwendet – anders als dargestellt)

Über Jahrhunderte war das Leinen, auch Linnen oder Flachs genannt, die nahezu einzige Möglichkeit, sich mit Kleidung zu versorgen. Heute ist der Stoff weitgehend durch importierte Baumwolle ersetzt. Einen großen Bedarf an Leinen hatte das Militär. Der Jagdrat Otto-Dietrich Krüger aus Cottbus trat 1748 mit dem Vorschlag an den preußischen König heran, in Burg eine „Leineweberfabrique“ einzurichten, um möglichst vielen eine Arbeit zu geben – so die Begründung im Antrag. Die Gemeinde Burg hatte sich von 1740 bis 1748 durch die Ansiedlung von 169 Familien beträchtlich vergrößert. Dem König gefiel wohl der Gedanke und so kam es 1750 zum Bau der Leineweberfabrik. Damit war zugleich das Aus für die vielen kleinen Spreewälder Familienbetriebe eingeläutet, denn deren Erzeugnisse waren der Billigkonkurrenz nicht mehr gewachsen. Es blieb weitestgehend nur noch bei einer Produktion für den eigenen Bedarf – angefangen vom Anbau des Flaches, wie er im Spreewald gern genannt wird, bis zum fertigen Produkt. Der Leinenanbau war auch für die Speiseölgewinnung von Bedeutung: Der Samen der Pflanze enthält sehr wertvolle Öle, die dem Spreewälder angeblich „strotzende Gesundheit und ein ewiges Leben“ garantierten, wie der Burger Arzt Heinrich Steffen einst formulierte. Heute findet sich das Leinen, vorrangig der Öllein, kaum noch auf Spreewälder Äckern. Die trockenen und meist schon zu warmen Frühlingsmonate der letzten Jahre lassen die in der Aufwuchsphase reichlich Feuchtigkeit benötigende Pflanze nicht mehr wirtschaftlich anbauen.

Bei aller Arbeit hatten die Kinder auch Spaß: Sie waren an einem Ort, der nur ihnen zugänglich war, es war warm und wenn man sich schmutzig machte, wurde nicht geschimpft!

Die Fasern der Pflanze können zu strapazierfähigen Stoffen (Leinwand) verarbeitet werden. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein surrten in Spreewälder Haushalten Spinnräder und klapperten hier und da auch noch Webstühle. Klara Puschisch aus Altzauche, Jahrgang 1926, erinnert sich an ihre Kindheit: „Ich musste gemeinsam mit den Eltern immer wieder auf der Scheunentenne mit dem Dreschflegel das Flachsstroh bearbeiten, damit der Samen für das Leinöl gewonnen werden konnte. Das ‚Eins-Zwei-Drei, Eins-Zwei-Drei, …‘ des Dreschens höre ich noch heute“, erinnert sie sich. Das so entsamte Stroh wurde später in Bößchen gebündelt, mit Roggenstroh verschnürt und in das nahe Luch gebracht. Hier kam es für mindestens zwei Wochen unter Wasser. „Dann musste ich die nassen schweren Bündel wieder rausholen und auf der Wiese als Puppen zum Trocknen aufstellen. Die Resttrocknung erfolgte dann kurz vor der Weiterverarbeitung daheim – im Backofen.“ Die zierliche Klara musste dann in den noch restwarmen Ofen kriechen und die zugereichten Flachsbündel aufschichten. Immer wenn abends Zeit war, meist nach der Kartoffelernte, wurden Bündel aus dem Backofen geholt und in der Küche mit der Flachsbreche geschäbt. Ziel war das Lösen der Außenhaut, der Fasern, vom holzigen Kern. „Ich musste die Abfälle sortieren und bündeln, denn sie waren alles andere als Abfall: Die Klempner nahmen uns das Werg, wie sie das Material nannten, gern als Dichtungsmittel ab. Und immer wieder wurde zwischendurch gesponnen. Im zeitigen Frühjahr machte sich die Mutter ans Weben, das war ihre Arbeit. Sie konnte so schöne Muster in die Hand- und Betttücher weben“, erzählt Klara Puschisch. Der große Webstuhl nahm viel Platz in der engen Stube ein. Damit er aufgestellt werden konnte, mussten die Betten abgebaut und wo immer noch ein wenig Platz im Haus war, wieder aufgestellt werden. Der aufwändige Vorgang zum Trennen der Fasern vom Holzkern der Leinpflanze wurde „Rösten“ genannt. Der Begriff stammt ursprünglich von Verrotten oder Bräunen ab, denn nur der trockene, brüchige Flachs ließ sich weiterverarbeiten.

Wie beschwerlich das Leben auf dem Land war, hat der Burger Wilfried Liersch bei der diesjährigen Weihnachtsplätzchen-Backaktion gezeigt: Nachdem das restliche Backgut aus dem Ofen war und dieser nur noch über eine Restwärme verfügte, durften Kinder in den Ofen klettern und Flachsbündel darin schichten. Dieser kam von der Leiper Familie Konzack. Sie hatten wieder einmal den Anbau des Flachses versucht – die gesamte diesjährige Ernte bestand dann allerdings nur aus einem Armbund Flachs, der bei Lierschens den Ofen bei weitem nicht füllte. Den Kindern hat es ziemliche Überwindung gekostet, denn schließlich spukte das Hänsel-und-Gretel-Märchen ordentlich im Kopf herum. Doch dann hatte es ihnen riesigen Spaß gemacht, denn sie waren an einem Ort, an den Erwachsene nicht ran konnten. Erst nach Zureden verließen sie den Ofen – ordentlich verstaubt, aber das interessierte die Kinder nicht.

Info: Die Burger Leinweberfabrik bestand aus drei langen niedrigen Häusern, in denen jeweils sechs Familien lebten und arbeiteten. Sie wurde 1765 vom Berliner Christian Richter übernommen. Etwas außerhalb des Dorfes fand sich ein Platz, der für das Bleichen der Stoffe geeignet war. Die weiträumigen Wiesenflächen vor dem heutigen Hotel „Zur Bleiche“ legen immer noch Zeugnis vom ehemaligen Bleichplatz ab. Dort entstanden zwei Wirtschaftsgebäude, um Stoffe zwischenzulagern. Aus einem der Gebäude hat sich vermutlich aus einem kleinen Schankbetrieb heraus 1772 die spätere Gaststätte, der „Gasthof zur Bleiche“, entwickelt. Die unmittelbar am Ortseingang aus Richtung Werben gelegene Fabrik, brannte 1850 vollständig ab.

Weitere Fotos zu Traditionen im Spreewald im Album

Peter Becker, 17.12.18

Über Peter Becker 361 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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