Schwiegatze und ein toter Hase

Lübbenauer Meerrettichmarkt

Paul Piesker: Meerrettich wird zum Markt gebracht (Öl)

 

Meerrettichanlieferung in Lübbenau (Archiv Harms)

Sieglinde Konzack, die 14-Jährige, hatte heute ihren letzten Schultag. Nach Ostern wird sie in Stellung gehen. Im Haushalt einer Lübbenauer Gurkeneinlegerei wird sie das lernen, was sie im Leben einer Hausfrau benötigen wird. Doch erst einmal ist, wie in jedem Jahr, die Mithilfe in der Landwirtschaft der Eltern angesagt. Die Blätter der Erlen sind schon groß wie ein 5-Pfennigstück – das Startzeichen für das Setzen der Schwiegatze, der bei der letzten Meerrettichernte gewonnenen Seitentriebe der Wurzel. Reinhard Konzack, der Vater, hat einen alten Motor auf ein Einachs-Gestell gesetzt, Holder genannt. Den spannt er statt der Ochsen vor den Hänger mit den Schwiegatzbündeln. Der Acker ist ausnahmsweise mal per Feldweg erreichbar. Obendrauf sitzt die ganze Familie, Sieglinde, ihre Mutter Herta und die drei kleineren Geschwister. In den Henkelkörben Brot, Schmalz und  Malzkaffee. Beim Tuckern vom Hof gab es lautstarken Protest von Lucy, dem Schäferhund, der sich so noch einen der inzwischen knapp gewordenen Plätze sichern konnte. Reinhard Konzack hatte schon Tage zuvor den Acker gepflügt. Da der Einachs-Trecker für den fetten feuchten Boden zu schwach gewesen wäre, musste die Ochsen ran. Sie ahnten wohl Schlimmes, als sie das Gefährt herannahen sahen, aber diesmal sollten sie frei haben. Von der Weide nebenan, auf der sie schon seit Tagen grasen, warfen sie mal kurz einen interessierten Blick auf die Ankömmlinge, zogen sich dann aber bald in die hinterste Ecke zurück, sicherheitshalber.

Herta und ihre Große nahmen den Setzstock und stießen in fast waagerecht unter die frischgepflügte Erde.  „Denkt dran, das eine Ende der Schwiegatze muss sich eine Handbreit unter der Erde befinden, das andere nur gerade so bedeckt“, erinnerte der Meerrettichbauer. Überflüssigerweise, denn diese Arbeit taten weder Mutter noch Tochter das erste Mal. Reinhard wuchtete sich die schweren Schwiegatzbündel auf die Schulter und verteilte sie über den Acker. Rita, Regina und Horst nahmen die Feinverteilung vor, so dass die beiden anderen sich nicht um Nachschub kümmern mussten. Lucy hatte sich inzwischen davongemacht, die Umgebung zu erkunden. Das Wetter meinte es gut mit ihnen, sehr gut sogar. Es wurde langsam Zeit, dem Rücken eine Pause zu können. Besonders Sieglinde war diese Arbeit nicht gewohnt: ständig in gebückter Haltung den Setzstock in die Erde stoßen und den zugereichten Schwiegatz hinterher. Die ersten Mücken des Jahres setzten ihnen auch schon langsam zu. Im Schatten einer Erle nahmen alle Platz, die Mutter schmierte die Schmalzbrote, der Vater stopfte sich eine Pfeife und begutachtete die Arbeit seiner Frauen. „Da gibt’s nischt zu meckern…!“, dachte er vor sich hin und wollte es anschließend auch Frau und Tochter sagen, vergaß es dann aber doch. Horst, der Achtjährige, wollte wissen, wann geerntet wird, er ahnte wohl schon Schlimmes, denn wie das Setzen war auch die Ernte ganz bestimmt „Familiensache“. Sein Vater konnte ihn insofern trösten, dass es nicht so bald sein wird. „Der Sommer und fast der ganze Herbst werden schon noch vergehen, dazwischen müssen wir noch zweimal die Wurzel leicht anheben und von den Seitentrieben befreien. Sonst gibt es keine gute Ernte und keine gute Ware, die dann hoffentlich auch gutes Geld bringt – für euch und uns. Deshalb ist auch eure Mithilfe wichtig, erst recht im Herbst. Nach der Ernte müssen wir dann daheim in der Scheune die Seitentriebe entfernen, sie für die das Setzen im nächsten Frühjahr aufbewahren und die geputzten Stangen nach der Größe sortieren und nach Gewicht bündeln.“ Während die Kinder der vielen auf sie zukommenden Arbeit wegen kaum noch zuhören wollten, sorgte Lucy für Aufsehen. Er hatte einen Hasen zur Strecke gebracht und voller Stolz vor seiner Familie abgelegt. Keiner wusste so recht, ob er mit dem Hund schimpfen oder er ihn lieber loben sollte. Naturverbunden, wie alle Spreewälder sind, achten sie jegliches Leben, verachten aber auch nicht eine zusätzliche Fleischmahlzeit, zumal dem armen Hasen nicht mehr zu helfen war. Man tat daher so, als beachte man den Hund nicht, damit er vor lauter Lob nicht gleich noch mal zu einer weiteren Jagd ansetzt, sicherte sich aber vorsichtshalber den Braten. Herta Konzack wickelt ihn in ihre Schürze ein und versteckte ihn auf dem Hänger. Es wurde Zeit, die Feldarbeit fortzusetzen, wenn auch seitens der Kinder mit immer stärker nachlassender Lust. Trotzdem war kurz vor Einbruch der Dunkelheit die Arbeit geschafft. Übriggebliebene Schwiegatze wurden leicht mit Erde bedeckt, um notfalls nachpflanzen zu können, falls sich Lücken in den Reihen bilden sollten.

Sieglinde, der Großen, schwante schon, dass sie mit dem Meerrettich noch mehr zu tun haben wird, als ihre Geschwister. Nach der Gurkensaison ist in den Konservierungsbetrieben Meerrettichsaison. Dann wird gereinigt, geschnitten und vor allen Dingen gerieben. Die Luft ist dann weithin mit dem scharfen Duft des im Meerrettich enthaltenen Senföls geschwängert, was zusätzlich noch die Tränen in die Augen treibt.

 

Die Spreewälderinnen sind für ihre Schlagfertigkeit bekannt. Da das Reiben meist aus gutem Grund an der frischen Luft erfolgt, bleibt der reichliche Tränenfluss bei Vorbeikommenden nicht unbemerkt. Auf diesbezügliche Fragen antworten sie meist: „Wir weinen, weil beim Reiben die Stange immer kürzer wird!“

Seinen Namen hat der Meerrettich vermutlich vom „Mährenrettich“ (Mähre = Pferd). Er wirkt bei Pferden schleimlösend und antibakteriell – früher ein beliebtes Hausmittel bei erkrankten Tieren.

 

Rezept Meerrettichlende

750 g Rinderlende mit
Salz  
Pfeffer  
Öl einreiben in
100g Butterschmalz anbraten die
3 Zwiebeln geschält und in Scheiben geschnitten dazu geben mit köcheln lassen und nach und nach mit
Wasser auffüllen.
2 Äpfel Schälen, vom Kerngehäuse befreien und in kleine Würfel schneiden. Wenn die Lende fast gar ist die
4 EL geriebenen Meerrettich  
1 TL Senf und die mit dem
1 EL Mehl verrührte
3 EL Kondensmilch dazugeben und die Soße mit
Johannisbeermarmelade und
Zitronensaft abschmecken.

 

Tipp: Dazu Kartoffelbällchen und Gurkensalat

 

 

 

Peter Becker, nach Aufzeichnungen von Paul Piesker, Lehde

Über Peter Becker 359 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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