„Wer ist eigentlich das Rindvieh? Die, die auf Futter wartend faul im Stall stehen oder die, die es ihnen bringen?“

Es kehrt Ruhe ein, der Abend senkt sich still in das Dörfchen Lehde herab. In der Ferne bellt ein Hund, in der Nähe beginnt rhythmisches metallisches Klopfen, nebenan beim Nachbarn auch. Das Vieh ist versorgt, die Menschen auch, die Männer stopfen sich eine Pfeife und holen die Sensen aus den Schuppen. Mit gekonnten Hammerschlägen schärfen sie die Sense, denn sie wird für den nächsten Tag in aller Frühe benötigt.

Sense dengeln

Wenn der Morgentau das Gras noch im Griff hat, schneidet es sich am besten. „Ob der Angeber mich wieder überrunden wird?“ fragt sich still Gerhard Schutt. Manchmal werden größere Wiesen gleich von mehreren Schnittern gemäht – Nachbarschaftshilfe eben. Schwad für Schwad wird versetzt gelegt, dabei kommt der nachfolgende Schnitter seinem Vordermann sehr nahe und überholt ihn auch manchmal: Ein stillschweigender Wettbewerb unter den Männern – der Unterlegende nimmt’s sportlich, der Überlegende weiß seinen Triumph still auszukosten. Schon morgen kann er in schlechterer Verfassung sein und unterliegen. Gerhard sieht sich für die nächsten Tage ohnehin als Sieger, denn er fährt ganz allein mit dem Kahn zu den Wiesen um Wotschofska und der Pohlenzschänke.

Das Wetter scheint stabil zu sein, Krüge mit Malzkaffee liegen schon im Kahn, im Korb Brot, Schmalz, Schinken und saure Gurken.  Zwei Sensen, zwei Wetzsteine, eine Harke, eine Decke und ein paar Gummistiefel liegen ebenfalls im Kahn. „Pass auf dich auf“, gibt ihm Elisabeth mit auf dem Weg. Seine Frau reicht ihm das Rudel zu und schon ist Gerhard unterwegs. „Ist schon eine Gute, die Lisa“, denkt er dankbar an seine Frau. Vor zehn Jahren hat er sie geheiratet, sie brachte eine Kuh mit in die Ehe und kann ordentlich zupacken. Vier Kinder, der Haushalt und die Tiere – das alles schafft sie weitestgehend allein, ohne Murren und Meckern. Nur manchmal muckt sie auf, immer dann, wenn er etwas länger fortblieb, so wie dieses Mal. „Ich will nicht, dass du Tage und Nächte im Pusch verbringst. Wenn dir etwas zustößt – niemand kann dir helfen. Lass uns die Wiesen in die Dorfnähe tauschen, dann bist du wenigstens abends daheim!“ Das sagt sie nun schon seit Jahren, doch Gerhard will die fruchtbaren und nur selten vernässten Wiesen nicht eintauschen. Ihm ist eine sichere Futtergrundlage wichtiger, nichts ist schlimmer, als im Winter ohne Futter dazustehen und vielleicht Tiere schlachten zu müssen. Es ist schon schlimm genug, wenn wegen Eis und Schnee nur unregelmäßig Heu von den Schobern geholt werden kann. Aber noch ist es frühsommerlich warm, die Sonne steigt und treibt die ersten Schweißperlen auf die Stirn des kräftig Stakenden. Noch vor der Mittagshitze sollen die ersten Schwaden liegen, so sein Plan. Nach zwei Stunden legt er an der Kohsewiese an, vertäut den Kahn und macht sich an die Arbeit. Milliarden Mücken steigen aus dem Gras auf, piesacken ihn. Die Mittagspause nimmt Gerhard im Schatten der alten Erle, in Begleitung der Mücken. Er tut was alle Spreewälder machen: er beachtet sie einfach nicht. Der Nachmittag verläuft noch schwieriger, weil noch heißer, noch mückiger und weil der Kaffee immer wärmer wird, trotz Kühlung im Fließ. Bis in die Dunkelheit wird gemäht, wenn auch verhaltener und Kräfte schonender. Dick mit Speck belegtes Brot ist die Abendmahlzeit, dann fallen ihn schon im Sitzen die Augen zu. Mit einer Decke schützt er sich vor der Kühle der Nacht und vor allzu aufdringlichen Mücken. Manchmal schläft er im Kahn, wenn die Wiesen doch noch zu feucht sind. Meist aber auf frischgemähtem Gras – mit Blick zum Sternenhimmel. Wenn ihn nicht sogleich die Müdigkeit übermannt, denkt er an die Schreckgespenster der Kindheit. An den Wassermann, der seine Streiche mit den Menschen spielt, an die Mittagsfrau, die alle sterben lässt, die am Mittag arbeiten („Bloß gut, dass sie mich noch nicht entdeckt hat!“). Er denkt an die dienstbaren Geister, die Lutki, er wünscht sie sogar herbei, damit die Arbeit schneller geht. „Wir mähen dir nicht die Wiese!“, rufen sie und machen sich sogleich darüber her. In ihrer Welt wird alles verneint und ins Gegenteil verkehrt. „Es regnet“ hört er sie sagen und schreckt sogleich aus dem Traum auf. Die Sonne lugt schon über die Wiesen. Dieser und noch der folgende Tag wird noch vergehen, bevor alles gemäht ist. Aber die Arbeit wird schon zunehmend leichter, denn zwischendurch wendet er mit der Harke das Gemähte, das so langsam in der Sonne zum Heu wird. Mit Frau und Kindern wird er in wenigen Tagen wieder hier sein, dann wird er seiner Lisa das Heu mit der Gabel auf den immer höher wachsenden Schober reichen.

Die Heimfahrt mit dem Kahn wird wie in jedem Jahr entspannt sein: Das Heu ist aufgeschobert (der Winter kann kommen), Eltern und Kinder haben sich viel zu erzählen, die zwei Stunden vergehen recht schnell. Gerhard ist froh und nachdenklich zugleich. Schon zweimal fiel die Heuernte aus, wegen Hochwasser. Nur mit Mühe und mit minderwertigem Futter konnten sie ihre beiden Kühe durch den Winter bringen. Deren Milch fiel entsprechend knapp aus, zumal sie beide auch zur gleichen Zeit kalbten. Im letzten Jahr war die Ernte bestens, aber der Winter kein richtiger. Mit dem Kahn konnte tagelang kein Heu vom Schober geholt werden, weil das Eis zu fest für den Kahn, aber zu dünn für den Schlitten war. Unsägliche Mühen, aber kaum Interesse oder gar Verständnis bei den Adressaten: Sie brüllten alles zusammen, wenn sie Hunger hatten. Rindviecher halt!

 

Text und Fotos von Peter Becker; nach Aufzeichnungen von Paul Piesker (1924 – 2002), Lehde

Repros: Paul Piesker; Spreewälder Ernteszenen, in Öl

Lehder Dorfszenen um 1910, Archiv Nemitz 

Über Peter Becker 359 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.