Mit dem Kahn zur Schule

In den Spreewalddörfern Leipe und Lehde fuhren früher fast alle Kinder mit dem Kahn in die Schule. Die Älteren allein, die Jüngeren wurden von den Eltern gebracht. Es ist anzunehmen, dass es im Rahmen nachbarschaftlicher Hilfe auch eine Art Sammeltransport gegeben haben wird. Auf alten Fotos der Lehder Schule ist zu sehen, dass viele Kähne vor der Schule lagen.

Der Leiper Schulkahn

Die Leiper Kinder besuchten, wie früher überall in jedem anderen kleinen Ort, die einklassige Dorfschule. Alle Kinder von der ersten bis zur achten Klasse wurden von einem Lehrer unterrichtet. Das war auch in Leipe lange Zeit so. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts mussten dann die älteren Kinder nach Lübbenau zur Polytechnischen Oberschule fahren. Da Leipe zu dem Zeitpunkt noch keine Straßenanbindung hatte, blieb nur der etwa sechs Kilometer lange schmale Pfad entlang der Spree. Mit dem Fahrrad oder zu Fuß musste die Entfernung bewältigt werden, auch im  Winter, bei Schnee und Eis. Der Hausmeister ihrer Lübbenauer Schule, Karl-Heinz Panzer, hatte die Idee, die Kinder mit dem Kahn zu befördern. Er baute einen alten Blechkahn der Elbewerft Zehren um, verlängerte ihn und setzte einen Aufbau drauf. Auch ein Kanonenofen fand darin Platz. Panzer war auch Kahnfährmann und so stand dem Unternehmen „Schulkahn“ nichts im Wege. Die behördlichen Genehmigungen wurden erteilt, nachdem Rettungsringe, Sanitätskasten, Rückspiegel und Dachausstiegsluke ein- und angebaut wurden. Von Mai 1965 an fuhr der Kahn, angetrieben von einem EL 150, einem 3,5-PS-Motor, nun täglich die Kinder nach Lübbenau und zurück. Als Sitze dienten Kino-Klappstühle, etwa 20 Kinder fanden so bequem Platz. Jeden Morgen bestiegen die Schüler den Kahn am Leiper Hotel, tagsüber dümpelte er dann bis zu seiner nachmittäglichen Abfahrt im Lübbenauer Hafen und diente nebenbei Touristen als Fotomotiv.  Hatten sich die Kinder auf dem einen Kilometer langen Weg von der Schule zum Hafen vertrödelt, kam es schon mal vor, dass ihr Kahn in Richtung Heimat abgelegt hatte. „Unser Kahnfahrer war auch Erzieher, jedenfalls wollte er gern einer sein“, erinnert sich der Leiper Siegfried Sprunk (Jahrgang 1955). „Er hat uns manchmal stehengelassen, weil wir uns im Hafen daneben benommen und die Touristen geärgert haben. ‚Du läufst heute!‘ klingt mir immer noch im Ohr! Aber meist lief alles ganz friedlich und harmonisch. Bei heißem Wetter sonnten wir uns auf dem Verdeck und badeten in der Spree“, erinnert sich der heutige Fährmann an eine Schulzeit, wie sie wohl nur wenige hatten. Sprunk war von Anfang bis Ende dabei. Das Ende der Kahnfahrschulzeit verbrachten die Älteren an kälteren Tagen am Kanonenofen. Das war ihr Stammplatz und ihr Vorrecht. „Wir Kleineren arbeiteten uns Jahr für Jahr vor. Saßen wir erst mal am Ofen, war auch für uns die Schulzeit vorbei“, erinnert sich der Sohn des Leiper Dorfschullehrers Werner Staritz.

Das von Karl-Heinz Panzer (1937 bis 1994) umgebaute Fahrzeug erwies sich als überaus nützlich. Es wurde sogar noch ein zweiter Kahn beim Lübbenauer Kahnbauer Albert Lubkoll 1966 in Auftrag gegeben, ebenfalls ein Kahn aus Stahlblech. Er war moderner und auch besser motorisiert, kam aber nicht mehr zum Einsatz als Schulkahn (s. Stationskahn). Die Leiper hatten sich inzwischen für den Bau einer Straße nach Burg stark gemacht. Ab Januar 1969 konnten dann alle Kinder mit dem Schulbus fahren, in die Burger Schule. Der alte Schulkahn wurde noch einmal umgebaut und diente der Touristenbeförderung. Später wurde er zur Abfallentsorgung eingesetzt und 2004 verschrottet.

Der Stationskahn – ursprünglich als Ersatz für den Schulkahn gedacht

Der moderne Kahn der Firma Lubkoll wurde vom Auftraggeber, der Kreisverwaltung Calau, der Stadt Lübbenau übergeben und diente der Freizeitgestaltung der Kinder in der Station der Jungen Naturforscher. Um auch dem Fährmann einen wetterfesten Unterstand zu geben, bekam er noch einen zusätzlichen Aufbau. „Der bewährte sich nicht, er führte sogar dazu, dass der leere Kahn bei Schneelast durch Schwerpunktverlagerung zu kentern drohte“, erinnert sich Karl-Heinz Berger, der damals für den Schiffsmodellsport in der Station verantwortlich war. Dieser nachträgliche Aufbau passte auch nicht durch alle Spreewaldbrücken. Bergers besonnenem Verhalten war es zu verdanken, dass die erste Fahrt nicht mit einem Unfall endete. Er konnte als Passagier mit letzter Kraft noch den Kahn am Brückenpfeiler festhalten, sonst wäre der Aufbau, darin der Fährmann, gegen die Brücke geprallt. Die Firma Lubkoll entfernte dann auch noch das Kabinendach und ersetzte es durch eine Plane, um den Kahn leichter zu machen.

Stationsmitarbeiter Kurt Vorwachs erinnert sich an viele Fahrten mit dem Stationskahn: „Wir haben den sogar manchmal zum ‚Kreuzfahrtschiff‘ umgebaut. Die Kinder konnten darin schlafen, was ihnen riesigen Spaß gemacht hat!“ Mit dem 6-PS-Außenbordmotor ging es quer durch den Spreewald um die Hirschbrunft zu beobachten oder um irgendwo zu zelten. Mit dem Stationskahn waren sie immer dabei. Alles was gebraucht wurde, von der Grillwurst bis zum Grill, war an Bord.

Der Stationskahn wird heute noch manchmal bei Kahnkorsos gezeigt und fälschlicherweise dann oft als Leiper Schulkahn bezeichnet. Er ist seit 1996 im Besitz des Tief- und Wasserbaus Boblitz und dient hier als mobile Arbeiterunterkunft und als Pausenraum.

Peter Becker, aus Becker/Marx: Faszination Spreewaldkahn, Edition Limosa

Über Peter Becker 361 Artikel
Jahrgang 1948, Diplomlehrer, Freier Journalist und Fotograf

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